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Strategiearbeit mit Big Picture und Backcasting

Geschrieben von Dr. Thomas M. Fischer | Aug 8, 2024 4:28:27 PM

Herr Fischer, warum bedarf es in der Strategiearbeit überhaupt alternativer Ansätze?

Strategien haben heutzutage eine extrem kurze Halbwertzeit, und Unsicherheit ist der ständige Begleiter von Unternehmen. Nicht umsonst bemühen wir die Interpretationsmuster wie VUKA oder BANI, um uns einen Reim auf das wirtschaftliche Umfeld zu machen. Das eine Akronym verbindet Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, miteinander. Das zweite charakterisiert die Gegenwart als brizzle, anxious, non-linear und incomprehensible. Also brüchig, angstbestimmt, nicht linear und unverständlich – was ich nach den Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre für die validere Sicht halte. Ganz gleich, durch welche Brille man auf die Märkte schaut: Die Unternehmen können nicht mehr sicher für die nächsten drei, vier Jahre planen. Aber genau das wird nach wie vor immer wieder versucht.

Die Unternehmen sollten also neu zu denken lernen?

Das ist zugespitzt formuliert, aber auch nicht falsch. Wir Menschen sind es gewohnt, die Vergangenheit und den Status quo in die Zukunft fortzuschreiben. Nach dem Motto: ein paar Prozent mehr hier, ein paar Prozent weniger dort. Disruptionen, Paradigmenwechsel, Dynamiken oder gar exponentielle Entwicklungen, etwa in der Digitalisierung oder beim Klimawandel, können wir nur schwer integrieren. Dieses Dilemma lösen wir nicht, indem wir versuchen, unser gewohntes, lineares Denken zu optimieren. Es ist zielführender, sich das Unternehmen der Zukunft vorzustellen und von diesem Punkt zurück ins Hier und Jetzt zu denken. Diese retrograde Denkrichtung, auch Backcasting  genannt, fordert unsere Imagination, keine Frage. Aber wenn man die Köpfe zusammensteckt und sich vorstellt, wie das Unternehmen in vier, fünf Jahren wahrscheinlich aussehen muss oder soll, kommt man den zentralen Entwicklungs- und Transformationsthemen auf die Spur. Dabei gilt es, einen großen Wurf zu wagen und ein „Big Picture“ der Zukunft zu entwerfen.

Wodurch zeichnet sich ein „Big Picture“ aus, und wie erleichtert es den Umgang mit der Zukunft?

Es repräsentiert einen attraktiven und erstrebenswerten Zielzustand. Oder, wie ich es gerne nenne: ein „Hin zu“. Es beschreibt die Märkte, das strategische Umfeld, die Kunden und Zielgruppen und die Erwartungen der Stakeholder an einem Tag X. Dass dabei mit Szenarien gearbeitet werden muss, um alle wahrscheinlichen Realitäten zu erfassen, liegt auf der Hand. Ein Big Picture hat ein hohes Abstraktionsniveau und kreiert einen Raum, auf den sich ein Unternehmen zubewegen kann. Es ist weit mehr als eine Mission oder Vision, die sich Unternehmen als Leitbild geben. Ein Big Picture löst die Bremsen und weckt die Fantasie, wohin die Reise des Unternehmens gehen soll. Es adressiert die Kernfragen des künftigen Erfolgs: Wer werden unsere Kunden sein? Was verkaufen wir? Bedienen wir neue, respektive andere Geschäftsfelder? In welchen Ländermärkten sind wir aktiv? Wie sind wir organisiert, also wie sind Aufbau- und Ablauforganisation strukturiert? Welche Kultur bringt uns weiter?



„Dieses Dilemma lösen wir nicht, indem wir versuchen, unser gewohntes, lineares Denken zu optimieren. Es ist zielführender, sich das Unternehmen der Zukunft vorzustellen und von diesem Punkt zurück ins Hier und Jetzt zu denken.“, so Dr. Thomas M. Fischer.

Werden im Big Picture auch sofort Zahlen wie Umsatzziele, Marktanteile oder vielleicht sogar Kostenpositionen verhandelt?

Das Big Picture macht Lust auf Zukunft. Es gilt, eine Beschreibung der Zukunft zu finden, die den Ängsten der Menschen vor Veränderung entgegenwirkt und sie mit positiven Botschaften auflädt – nach dem Motto: „Für Fach- und Führungskräfte sind wir im Jahr 2028 besonders interessant, weil …“ „Unser internationaler Vertrieb umfasst nun auch die Märkte A, B und C …“ „Wir gelten als Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität …“ „Unsere Innovationen bestimmten den Takt des Marktes …“ „Wir sind unangefochtene Marktführer in den Marktsegmenten X oder Y …“ Oder, wie es in einem Workshop hieß: „Wir sind in unserer Branche eine Bastion.“ Das fand ich super. Da geht sofort ein Ruck durch die Mannschaft, und die Augen leuchten. Mit solchen Aussagen kann sich eine Organisation verbinden. Aber ja – man kann auch konkrete Zahlen beziehungsweise Zielgrößen integrieren. Darauf liegt aber nicht der Fokus. 

Beinhaltet das Big Picture schon dezidierte Entscheidungen?

Nein, ganz bewusst nicht. Das Big Picture eröffnet einen Gestaltungsraum und gibt der Veränderung Sinn und Ziel. Anders gesagt: In den Handlungsfeldern Strukturen, Systemen, Kultur und Führung wird das Delta zwischen dem Ist- und Sollzustand greifbar. Auf dieser Basis lassen sich Meilensteine und Etappenziele für die Veränderungsprozesse definieren. Um das einmal anhand eines Beispiels zu skizzieren: Im Big Picture für das Jahr 2028 verfügt das Unternehmen über ein E-Commerce-Geschäft, das bislang nicht existiert. Es wird jedoch nicht überlegt, wie dieser Einstieg gelingt und wie er gestaltet werden soll. Vielmehr wird ein Meilenstein definiert: Ab 2026 sind wir mit einem umfassenden Angebot online. Das heißt, wie genau das digitale Geschäft entwickelt wird, spielt noch keine Rolle. Das fühlt sich ganz anders an als klassische Strategiearbeit. Die wird natürlich nicht ersetzt, sondern orientiert sich in der Folge am Big Picture.

Für welche Unternehmen ist die Arbeit mit einem Big Picture interessant?

Eigentlich für alle. Der Vorteil ist: Man kann den Prozess von jetzt auf gleich starten und ist recht schnell damit durch. Das ist besonders interessant für Unternehmen, die unter Druck stehen, sich in einem Transformationsprozess verlaufen haben oder anfällig sind für diffuse Marktsituationen.

Wie werden die Stakeholder eines Unternehmens in den Prozess einbezogen?

Der Entwurf des Big Pictures beginnt immer mit der Geschäftsführung und den Gesellschaftern. Sie wollen schließlich die Optionen kennen, wohin sie ihr Geld künftig investieren sollen. Anschließend wird die zweite Führungsebene eingebunden. Das ist ein wenig hierarchisch, hat sich aber bewährt. Eine Research Phase, in der die Markt- und Trendforschung ausgewertet wird, gehört natürlich auch zur Vorbereitung. Ein entscheidender Punkt ist, die Belegschaft partizipativ einzubeziehen, etwa über Umfragen oder gezielte Interviews. Damit aktiviert man direkt die Menschen und erhöht die Akzeptanz für den Veränderungsprozess. Und: Es ist verblüffend, wie viele Gedanken sich die Menschen im Unternehmen über die Zukunft des Unternehmens und ihren eigenen Beitrag machen.

Es gibt diesen berühmten Spruch: „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß …“

Darin steckt wirklich mehr als ein Körnchen Wahrheit. Wenn man die Einschätzungen, Erwartungen und Informationen im Unternehmen systematisch sammelt und auswertet, wird Zukunft wirklich greifbar. Das Big Picture wird dann in Workshops zusammengetragen, verschriftlicht und manchmal auch in anschaulichen Illustrationen und Sketchings visualisiert.

Quasi als Einstieg in das Change Management?

Unbedingt. Ein Bild sagt zum Start schon mal mehr als tausend Worte. Und wir wissen seit Peter Drucker: „Kultur verspeist die Strategie zum Frühstück.“ Auch wenn uns das Zitat zu den Ohren herauskommt: Es stimmt. Werteorientierung, Führungsprinzipien, Personalentwicklung, Teambuilding sind zentrale Faktoren, um von A nach B zu gelangen und ein Unternehmen fit für die Zukunft zu machen. Ein Big Picture sollte so glaubhaft, erstrebenswert und ambitioniert sein, dass die Dynamik des Wandels von selbst entsteht. Auf dieser Basis lässt sich fürs Change Management ein kraftvolles Storytelling entwickeln, an das die Führungskräfte immer wieder anknüpfen können. In Meetings, in Jahresgesprächen, auf Firmenevents, in den Mitarbeitermedien – aber auch in der medialen Außenkommunikation. 

Sie befassen sich seit Jahren intensiv mit unternehmerischer Resilienz. Zahlt ein Big Picture darauf ein?

Ein Big Picture erleichtert den Umgang mit Komplexität und hilft den Mitarbeitenden und Führungskräften, in schwierigen Situationen gute Entscheidungen zu treffen. In Krisen ist es ja meist nicht so, dass die Unternehmen keine Handlungsoptionen hätten. Im Gegenteil. Die Gefahr liegt darin, dass sie unter Stress und Druck die falsche Karte ziehen und damit alles nur noch schlimmer machen. In solchen Situationen ist es sehr hilfreich, den Hafen weiter im Blick zu haben. Also, die Antwort ist ein klares Ja. Ein Big Picture gibt in schwierigen Zeiten Orientierung. Ich habe zum Thema Resilienz nach der Coronakrise 25 hochrangige Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer aus der deutschen Wirtschaft befragt. Sie haben diesen Effekt bestätigt.

Man wünschte sich fast, es gäbe auch für den Standort Deutschland ein Big Picture …

Meine Rede! Wirtschafts-, gesellschafts- und umweltpolitisch wursteln wir vor uns hin. Wir haben in Deutschland die Prioritäten nicht klar. Wie auch, wenn es keine Vorstellung von einem Zielbild, keine Vision für unsere gemeinsame Zukunft gibt. Wir reagieren nur auf das, was in der Welt geschieht, und agieren nicht, geschweige denn, dass wir proaktiv unterwegs sind. Dieses Vakuum halte ich für gefährlich, denn darin kann der krudeste und extremste Unsinn entstehen – was ja bereits passiert, wie der Zulauf der Rechtsextremen zeigt. Aus professioneller Sicht wünsche ich mir eine ernsthaft betriebene Zukunftsdebatte für Deutschland. Stattdessen verheddern wir uns im Klein-Klein einzelner Gesetzesvorhaben. Ich bin sehr dafür, größer und mutiger über das Land nachzudenken.

Dieses Gespräch führte Christoph Berdi von den Identitätsstiftern