Der Kunde von heute lässt sich nur schwer begeistern. Ob im Business-to-Consumer- oder im Business-to-Business-Sektor: Ein alternativer Anbieter ist für ihn gerade mal einen Klick weit entfernt. Kein Unternehmen darf sich im 21. Jahrhundert noch der Illusion hingeben, dass der Verbraucher im Internet ihm gegenüber loyal und seinen Marken langfristig treu bleibt. Die Kunden kaufen dort, wo ihre Erwartungen mindestens erfüllt oder besser noch übertroffen werden. Und: Ihre Ansprüche wachsen Jahr um Jahr. E-Commerce-Leuchttürme wie Amazon legen die Messlatte immer höher, verwöhnen mit ihrem Einkaufs- und Serviceerlebnis und prägen die Erwartungen der Menschen. Dabei macht es längst keinen Unterschied mehr, ob jemand als Privatperson das neueste technische Gadget kauft oder als Procurement-Manager seines Unternehmens Büromaterial oder Produktionsmittel für die Fabrik ordert. E-Commerce erfordert Exzellenz.
Wo steht der deutsche Mittelstand, mithin Rückgrat der hiesigen Wirtschaft, im digitalen Vertrieb? Nicht in vorderster Reihe. Sein guter Ruf als Lieferant von State-of-the-Art-Technologien und Produkten von hoher Qualität ist unbestritten, seine E-Commerce-Kompetenzen lassen jedoch mitunter zu wünschen übrig.
Auf die einfache Frage, wie sie Amazon-Gründer Jeff Bezos als Mantra vor sich herträgt, fehlen vielerorts noch überzeugende Antworten: „Wie kann ich das Leben meiner Kunden erleichtern?“. Der umstrittene Revolutionär der Einkaufswelten hat seinem Unternehmen einen laserscharfen Fokus auf Customer Centricity verordnet. In diesem Jahr dürfte Amazon beim Umsatz die 500-Milliarden-Dollar-Grenze knacken. Ganz falsch kann der Ansatz also nicht sein, und im Prinzip tickt die gesamte Plattformökonomie aus dem Silicon Valley so. Bis zur Besessenheit – diese Zuspitzung sei erlaubt – perfektionieren und inszenieren die Betreiber weltbekannter E-Commerce-Marktplätze das Kundenerlebnis.
Das große Missverständnis
Weder die deutsche noch die europäische Wirtschaft finden an diesen Boom derzeit Anschluss. Und das liegt keineswegs daran, dass sich die Unternehmen dem E-Commerce verschließen würden; ganz im Gegenteil: Viele mittelständische Unternehmen erhöhen derzeit ihre Investments. Sie haben erkannt, dass ihre Fähigkeiten in der digitalen Sphäre über ihre Wettbewerbsfähigkeit und auch ihre Resilienz von morgen entscheiden.
E-Commerce wächst unaufhörlich, auch in Folge der Coronapandemie. Der Online-Monitor des Handelsverbandes Deutschland (HDE) weist je nach Szenario Wachstumsraten von acht Prozent bis mehr als 15 Prozent pro Jahr aus. Zahlen des Marktforschungsinstituts Nielsen zeigen zudem, dass der Online-Handel um den Faktor sieben schneller wächst als der Offline-Verkauf. Das Momentum und die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung liegen im Digitalen. Woran hapert es also, wenn es mittelständischen Unternehmen nicht am Willen und auch nicht unbedingt am Geld für E-Commerce fehlt? Um es kurz zu machen: Es fehlt an Fokus, an Führung und am Mut zu weitreichender Veränderung.
Am häufigsten zu beobachten ist das Missverständnis, E-Commerce sei ein Technologieprojekt. Logisch, ohne erstklassige Frontends, Prozesse, Datenbanken, Sicherheitssysteme und Schnittstellen geht im E-Commerce gar nichts. Aber es ist eben zu wenig ambitioniert, die IT-Abteilung lediglich mit dem Aufbau entsprechender Strukturen zu beauftragen und es dabei zu belassen. Im Ergebnis entsteht dann nichts anderes als ein weiterer Verkaufsweg, der mehr schlecht als recht an den bestehenden Vertrieb angebunden werden kann.
Aber E-Commerce kann so viel mehr. Hier liegt ein immenses Potenzial für neue Geschäftsmodelle, für eine vertiefte Wertschöpfung und letztlich auch auf für eine zukunftsweisende Transformation des gesamten Unternehmens. Die Textilkette Breuninger, um ein leuchtendes Vorbild anzuführen, würde heute sicher nicht mehr als die Hälfte ihrer Umsätze online erlösen, wenn sie ausschließlich eine digitale Filiale eröffnet und an diesem Punkt die Hände in den Schoß gelegt hätte. Vielmehr haben sich die Stuttgarter strategisch von einem Handels- zu einem Multichannel-Unternehmen entwickelt, das seine Kunden begeistern möchte, egal, in welchem Verkaufskanal sie sich bewegen.
Kommunikatoren und Motivationskünstler
Sein volles Potenzial entfaltet der E-Commerce eben nicht in einem Silo, sondern vielmehr unternehmensübergreifend und als integraler Bestandteil der gesamten Organisation. Darin liegt die große Herausforderung, und sie braucht die volle Aufmerksamkeit der Geschäftsleitung und der Führungskräfte. Sie müssen sicherstellen, dass im Unternehmen eine Vision für die digitale Zukunft formuliert und die Strategie darauf ausgerichtet wird. Ihre Aufgabe ist es, die Freiräume und Ressourcen bereitzustellen, damit die Teams und Mitarbeiter sich ernsthaft, mit hoher Priorität und gut koordiniert mit der E-Commerce-Zukunft auseinandersetzen können.
Ferner sind die Führungskräfte als Kommunikatoren gefragt. Und wenn es mal hakt – was bestimmt passieren wird! – auch als Motivationskünstler. Man darf nicht vergessen: E-Commerce wird von vielen Mitarbeitern als Bedrohung empfunden, als kannibalisierender Vertriebsweg, der ihre eigene Arbeitsleistung überflüssig machen könnte. Darin liegt die wahre Ursache begründet, warum viele E-Commerce-Investitionen hinter den Erwartungen zurückbleiben. Es menschelt: Verkaufseinheiten wähnen sich in Konkurrenzsituationen, Mitarbeiter sehen ihren Beitrag nicht gewürdigt, Fragen zur Fakturierung der verschiedenen Kanäle bleiben ungelöst, Bereichsegoismen können nicht überwunden werden – und noch mehr.
Solchen Problemen ist nur mit einem Change Management entgegenzuwirken, das die Menschen wirklich mitnimmt. Sie wollen überzeugende Argumente zur Strategie und zu den positiven Effekten des E-Commerce für die Wettbewerbsfähigkeit hören, Signale der Zuversicht, über die sie Vertrauen in eine dezidierte E-Commerce-Strategie fassen können.
Darüber hinaus sind konkrete Maßnahmen erforderlich, etwa neu justierte Anreiz- und Provisionssysteme, die alle Besonderheiten einer modernen Customer Journey berücksichtigen. Der Grund: Kaufentscheidungen fallen heute im Omnichannel-Kontext. Manche Kunden informieren sich im Laden oder Showroom und ordern letztlich doch online. Andere wiederum informieren sich online und kaufen dann im Geschäft. Zwischendurch nutzen sie die sozialen Medien des Anbieters. Die Frage, die sich Mitarbeiter zurechtstellen, lautet: Auf wessen Leistung werden solche Erlöse angerechnet? Dafür braucht es gerechte Lösungen.
Abbildung 1: Voll integriert – E-Commerce als Gemeinschaftsaufgabe. Die Spinne im Netz: E-Commerce funktioniert nur, wenn alle Prozesse End-to-End durchdacht und die Schnittstellen sauber definiert werden.
Perfekter Service
Diese organisatorische und auch kulturelle Feinarbeit ist unentbehrlich, damit Produktion, Vertrieb und Logistik, Marketing, PR und Content Creation, Einkauf, IT und Finanzbuchhaltung effektiv zusammenarbeiten können. Das Zauberwort der Kollaboration lautet „panta rhei“ – alles fließt: Die relevanten Kundendaten müssen transparent und über alle Abteilungsgrenzen dort verfügbar sein, wo sie gerade benötigt werden. Sie sind nicht nur die Grundlage für herausragende Kundenerlebnisse an allen Touchpoints, sondern auch als Impulse für Neu- und Zusatzgeschäft Gold wert. Schließlich geht es im E-Commerce nicht nur darum, die Bedürfnisse der Kunden zu befriedigen, sondern ihnen auch maßgeschneidert Updates, Ersatz oder zusätzliche Produkte und Services anzubieten.
Dies kann auf verschiedenen Wegen erfolgen – automatisiert über den Kunden-Account, durch digitale Kommunikationsmaßnahmen oder im persönlichen Kontakt –, aber immer mit derselben Qualität: Convenience. Sie ist der zentrale Erfolgsfaktor im E-Commerce.
Der Kunde ist ohnehin König, im Netz ist er sogar Kaiser. Er möchte online auf das komplette Sortiment zugreifen können, vielleicht vorselektiert auf Basis seines bisherigen Orderverhaltens und um passgenaue Empfehlungen ergänzt. Er erwartet Informationen zu Verfügbarkeit, Lieferfristen und möglichen Rabattstaffeln in Echtzeit, wünscht sich bequeme, nachverfolgbare Bestellungen und ist offen für moderne Spielarten: Abonnements, Plattformmodelle mit Drittanbietern, Freemium-, On-Demand und Pay-per-Service-Modelle.
Abbildung 2: Mit Neuro-Marketing die Kunden ergründen. Für effektive Persona gibt die Arbeit mit der Limbic Map wertvolle Hinweise zu den Motiv- und Wertestrukturen der Kunden. Quelle: Gruppe Nymphenburg
Hier schließt sich der Kreis: Unternehmen, die im E-Commerce erfolgreich sind, kennen ihre Kunden und stellen einen „Match“ zwischen ihrem Angebot und der Nachfrage her. Sie arbeiten mit dezidierten Personas ihrer wichtigsten bestehenden und potenziellen Kundengruppen, die aus Marktforschungsdaten, Kundenbefragungen und dem Websitetracking zusammengefügt werden. Die Persona enthält neben soziodemografischen Daten auch Informationen zu typischen Bedürfnissen, Wünschen und Wertvorstellungen der Gruppe, nicht zuletzt auch Hinweise auf ihre Vorlieben in der Kommunikation und im E-Commerce.
Daraus lassen sich gezielte Ansprachen, Botschaften an den verschiedenen Touchpoints ableiten, die die Zufriedenheit und die Empfehlungsbereitschaft der Nutzer erhöhen. Die Königsdisziplin in der Arbeit mit Personas ist das Neuromarketing. Mit Instrumenten wie der „Limbic Map“, um ein Beispiel zu nennen, lassen sich Personas präzise mit konkreten Motiv- und Wertestrukturen hinterlegen. Mit diesem Wissen finden die Unternehmen die Sprachmuster, die Farbcodes und die Bildwelten, die den Kunden das Gefühl geben: Die kennen und verstehen mich, hier bin ich gut aufgehoben, die können mich begeistern.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)
STARTUP MEETS TOM
Dr. Thomas M. Fischer, Multi-Entrepreneur, Startup-Investor und CEO der Mittelstandsberatung Allfoye, spricht mit Gründern über neue Lösungen für den Mittelstand, die Startup-Szene und den Faktor Mensch in der neuen Arbeitswelt.
Mar 18, 2022 11:29:23 AM