Die Logik hinter der Purpose-Argumentation klingt bestechend: Werte und Haltung sind gefragt. Die Bürger, die dem Kapitalismus ohnehin skeptischer denn je gegenüberstehen, wollen die Handlungsmaximen der Unternehmen verstehen. Wie agieren sie für einen effektiveren Umwelt- und Klimaschutz? Welchen Qualitäts- und Leistungsanspruch verfolgen sie? Wie definieren sie ihre Rolle als Corporate Citizen und wofür übernehmen sie in der Gesellschaft Verantwortung? Unternehmen, die sich an solchen Leitfragen ausrichten, dürfen laut einschlägiger Studien auf bessere Geschäfte hoffen.
Seltsam nur, wie zurückhaltend viele Führungskräfte und Unternehmer aus dem Mittelstand das Purpose-Thema aufnehmen. „Hören wir uns das mal an, warten wir mal ab“ – das sind gängige Reaktionen, wenn die Sprache auf den Purpose kommt. Sie fremdeln mit dem Gedanken, ihr Unternehmen auf ein messerscharfes Purpose-Statement zu verpflichten. Und dass sie im neuen Wettbewerb der Werte den Kürzeren ziehen könnten, halten sie für eher unwahrscheinlich. Es dürfte sich lohnen, hier genauer hinzuschauen. Offensichtlich gibt es doch mehr Parameter für die Entscheidung für oder gegen eine Purpose-Strategie, als die überdrehte öffentliche Diskussion glauben macht.
Warum also springen manche Unternehmen auf das Purpose-Thema partout nicht an, obwohl die Vorteile doch angeblich auf der Hand liegen? Nach vielen Gesprächen dazu bin ich überzeugt, dass hinter dieser Zurückhaltung selten eine Ignoranz der gesellschaftlichen Herausforderungen liegt, sondern eher eine Überzeugung: Entscheidend ist, ob die Menschen die Werte und die Haltung eines Unternehmens wirklich spüren.
Gerade im Mittelstand, zumal in familiengeführten Unternehmen, ist das traditionell die Folge einer gewachsenen Kultur und nicht Ergebnis nach innen und/oder außen propagierter Leitsätze. Gelebte Verantwortung ist, aus dieser Perspektive betrachtet, allemal effektiver, als eine Organisation gekünstelt auf Linie zu bringen und zweifelhafte Überzeugungskampagnen zu fahren. Es spricht einiges für diese Auffassung.
Viele mittelständische Unternehmen verfügen über eine treue Belegschaft, manche Familien gehören ihr über Generationen an. An Standorten in strukturell benachteiligten Gebieten ergänzen diese Unternehmen die öffentliche Infrastruktur. Sie schaffen Wohnraum, Angebote für Bildung, Kinderbetreuung und Freizeit. Ihnen ist es häufig zu verdanken, dass die Standorte lebenswert und attraktiv bleiben. Betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten und verantwortungsbewusstes Handeln bringen sie nicht in eine Balance, weil sie am Markt eine Wirkung erzielen möchten, sondern weil es ihrem Charakter entspricht. Diese Beschreibung ist idealtypisch, selbstredend sind solche Engagements auch strategisch begründet und stützen das Geschäftsmodell. Man denke nur an die weitreichenden Angebote mancher „Hidden Champions“, um begehrte Fachkräfte an Standorte in ländlichen Räumen zu locken. Dennoch – auf Gedeih und Verderb einen Purpose zu entwickeln, wäre für diese Unternehmen nicht zielführend. Sie entfalten ein komplexes Wirkungsgeflecht, das kein Purpose-Statement dieser Welt erfassen könnte. Für diese Unternehmen geht es eher darum, ihre Kultur und ihr Werteset überlegt und systematisch zu aktualisieren.
„Auf Gedeih und Verderb einen Purpose zu entwickeln, ist nicht für jedes Unternehmen zielführend“, so Max Görner, Senior Director bei der Allfoye Managementberatung und Experte für Kulturtransformation.
Indes gibt es eben Unternehmen, die ganz anders funktionieren. Im Zuge von Neoliberalismus und Shareholder Value haben sie sich in renditeoptimierte Maschinen verwandelt, die mit minimalem Input maximalen Output erzeugen sollen. Auch dieses Bild ist um der Klarheit willen zugespitzt, aber dieser Typus auf maximale Effizienz getrimmter Unternehmen existiert durchaus. Sie haben sich dafür entschieden, dass ihr Geschäft das Geschäft ist. Getreu der alten Devise des Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman: „The Business of Business is Business.“ Und das ist in einer freien Marktwirtschaft völlig legitim – solange diese Unternehmen am Markt nichts anderes behaupten. Jedoch haben sie zunehmend ein Problem: Ihnen entgleitet der Kontakt zu einem wachsenden Anteil der Kunden und der Mitarbeiter. Immer mehr Menschen scheint es schwer zu fallen, sich mit solchen Unternehmen und Arbeitgebern zu identifizieren. Zudem dürften diese Unternehmen mittelfristig damit zu kämpfen haben, dass werteorientierte Kunden den Faktor „gesellschaftliche Verantwortung“ in ihre Kaufentscheidungen einbeziehen.
Welchem Typus entspricht Ihr Unternehmen? Agiert es eher wie eine verantwortungsbewusste Persönlichkeit oder wie ein rein betriebswirtschaftliches Gebilde? Die Realität wird sein, dass die Wahrheit zwischen diesen Polen liegt. Es gilt also, selbstkritisch Maß zu nehmen und die Frage zu beantworten, welche ideellen Brücken ein Unternehmen für seine Stakeholder bereits gebaut hat und welche es noch errichten sollte. Man darf sich nichts vormachen: Es gibt nach wie vor viele Mitarbeiter und Kunden, denen sind unternehmerische Verantwortung und Werte herzlich egal. Man mag das beklagen, aber es ist so. Um in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Unternehmen jedoch die wachsende Gruppe von Bürgern erreichen, die höhere Ansprüche an ihre Arbeit und an die Wirtschaft stellen. Sie definieren das Image eines Unternehmens, entlarven Green- und Social Washing – oder werden zu Markenbotschaftern.
Dabei darf man eines nicht vergessen: Wertebewusste Menschen sehen die Unternehmen nicht nur schwarz-weiß. Vielmehr hinterfragen sie Unternehmen kritisch, begegnen ihnen aber gleichzeitig mit einer positiven Erwartung. Sie wissen, dass ohne die Unternehmen weder eine Klimawende noch sozialer Fortschritt möglich sein wird. Sie verknüpfen das „Prinzip Verantwortung“ mit dem „Prinzip Hoffnung“. Anders gesagt: Die Menschen suchen im Kontakt mit den Unternehmen nach mehr Menschlichkeit. Und sie möchten, dass der Puls der Veränderung so regelmäßig spürbar wird wie der eigene Herzschlag. So verstanden, ergibt das Streben nach einem Purpose plötzlich viel Sinn.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)