„Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack einer Katastrophe nehmen.“ Dieser Aphorismus stammt vom Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Er wird so oft zitiert, dass die Tageszeitung „Die Welt“ den Autor prompt im Jahr 2008, als das internationale Finanzsystem erbebte, zum „Philosophen der Krise“ kürte. Ich mag dieses Zitat, weil es die Sinne für die Dialektik existenzbedrohender Situationen schärft.
Der Begriff Krise, so wie er in der westlichen Welt benutzt wird, wird in der chinesischen Kultur mit zwei Schriftzeichen ausgedrückt. Das eine Zeichen symbolisiert Risiko und Gefahr, das andere steht für Chance und günstige Gelegenheit. Zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen werden somit vereint, ein starker Impuls, der sich aus dieser Spannung ergibt! Denn jeder Unternehmer oder Gründer, der sich seit Anfang des Jahres 2020 mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie arrangiert und unentwegt um die Liquidität seiner Firma kämpft, steht – vereinfacht gesagt – vor der zentralen Frage: Versinke ich in der Gefahr oder kann ich die Chancen, die sich vielleicht auch bieten, ergreifen? Wachsen meinem Unternehmen Flügel oder verfällt es in eine Angststarre? Die Haltung ist entscheidend.
Ausschlaggebend für die Antwort auf diese Fragen ist, ob das Führungspersonal den ambivalenten, komplexen Charakter einer Krise erkennen kann. Studien belegen, dass Führungsverantwortlichen die eigene Befindlichkeit und Persönlichkeit durchaus im Wege stehen. Wie schwer fällt es dem einen oder anderen Manager oder Unternehmer, der Krise offen und beherzt zu begegnen und den notwendigen Wandel einzuleiten! Vor lauter Sorge und auch Scham, sich gegebenenfalls eigenes Scheitern eingestehen zu müssen und das Gesicht zu verlieren, laufen sie Gefahr, ihr Unternehmen in eine Abwärtsspirale zu schicken: Sie senken die variablen Kosten, führen Kurzarbeit ein, schließen Produktionsanlagen, verbessern den Cash Flow, üben Druck auf die Lieferanten aus, verunsichern ihre Belegschaft und machen die Banken nervös… Aktionistische Sparmaßnahmen helfen jedoch nur selten, gefährdete Geschäftsmodelle nachhaltig auf die Zukunft auszurichten und erfolgreiche Restrukturierungen einzuleiten. Kluge Kriseninterventionen laufen anders ab. Sie beinhalten immer, um mit dem Ökonomen Joseph Schumpeter zu sprechen, den Aspekt der „schöpferischen Zerstörung“. Nur innovative, die neuen Bedingungen antizipierende Technologien und Produkte, Prozesse und Services eröffnen die Chance, dass ein Unternehmen mit „Pioniergewinnen“ aus der Krise hervorgeht.
Doch wie anfangen? „Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen“, heißt es bei Konfuzius. Und das heißt übersetzt in meine Denkweise: Mit einer ehrlichen und strukturierten Analyse – ob nun ausschließlich intern oder flankiert von Unternehmensberatern mit ihrem unbefangenen und distanzierten Blick von außen. Im Grunde sind drei Aspekte zu klären:
Im Falle der Corona-Pandemie steht außer Zweifel, dass die Krise mit hoher Intensität und für einen längeren Zeitraum ganze Branchen bedroht. Exogene Faktoren, wie Shutdowns und Kontaktbeschränkungen, unterbrochene Lieferketten und lahmgelegte Marktsegmente machen den Unternehmen zu schaffen. Doch dürfen diese unerwarteten Ereignisse auch nicht pauschal als Entschuldigung für alle Probleme herhalten. Auftrags- und Ertragsrückgange, Umsatzeinbußen, Überschuldung können die Folge sein, aber für all diese Phänomene ist oftmals der Ausbruch von Covid-19 nicht einzig und allein verantwortlich zu machen. Das wäre zu simpel und verpasst die Gelegenheit, rechtzeitig einzuschreiten und das Geschäftsmodell anzupassen.
Zu einer adäquaten Reaktion auf Krisensituationen gehört, sich die endogenen Faktoren, also auch die eigenen Versäumnisse, genau anzuschauen. Sie existieren vielleicht schon länger, treten aber erst durch die Krise deutlich zu Tage. Latente Schwächen im Geschäftsmodell, Führungsdefizite, eine verfehlte Produktpolitik, Innovations- und Investitionsstaus – die Liste möglicher, bislang kaschierter Defizite, Insuffizienzen und Schwächen wird bisweilen lang. Sofern man mit kühlem Kopf ein eindeutiges Verständnis der Krise entwickelt und sie damit als solche auch wahrnimmt und nicht abwehrt, so meine Erfahrung, reduziert sich die Komplexität umgehend.
Viele Krisenphänomene im Unternehmen lassen sich mit überschaubaren, geradezu bescheidenen Mitteln erst einmal verorten, damit benennen, strukturieren und letztlich lösen. Ohne Hexenwerk, sondern mit gezielten Griffen in das reiche Repertoire der Managementlehre. Vom Lean Management über Six Sigma bis hin zum Business Process Engineering reicht das Spektrum an wirksamen Konzepten und Instrumenten, die je nach Problemlage eine schnelle und effiziente Lösung ermöglichen.
Dr. Rainer Landwehr ist Experte für Strategieentwicklung und Unternehmensführung mit mehr als 30 Jahren Managementerfahrung in der Automotive-Industrie – u.a. als Vice President von Nissan Europe und Vorsitzender der Geschäftsführung von Goodyear Dunlop Tires D-A-CH.
„Genialität ist, komplexe Ideen einfach erscheinen zu lassen, und nicht, einfache Ideen kompliziert zu machen“, hat schon Albert Einstein gesagt. Einfachheit – nicht zu verwechseln mit ignoranter Simplifizierung – ist das beste Leitprinzip. Simplifizierung ist eine Vorgehensweise, die Sachverhalte unzulässig vereinfacht und der Problemkomplexität nicht gerecht wird; sozusagen der intellektuell bequemere Weg. Einfachheit hingegen ist das Ergebnis einer tiefgreifenden Analyse der Sachlage, die sich auf die wesentlichen Ursachen konzentriert und in verständlicher Sprache ausgedrückt wird; ohne Zweifel der intellektuell anspruchsvollere Weg.
Einfachheit schont die stark strapazierten Aufmerksamkeitsressourcen des Managements und erleichtert die Führung. Klarheit, die Zwillingsschwester der Einfachheit, schafft Vertrauen. Diffuse Komplexität hingegen verwirrt. Mit anderen Worten: Es gilt, die Auswirkungen einer Krise auf die verschiedenen Aufgabenbereiche präzise herunterzubrechen und klar zu formulieren:
Wer seine Mitstreiter und Mitarbeiter mit Zahlen und Analysen überfordert, begeht häufig einen Kardinalfehler des Krisenmanagements: Er adressiert nur den Verstand der Menschen, nicht aber deren Herzen. Der Papst des Change Managements, Harvard-Professor John P. Kotter, weist seit den 1990er-Jahren gebetsmühlenartig darauf hin, dass es in Veränderungsprozessen entscheidend darauf ankommt, die Gefühle der Menschen anzusprechen und emotional ein positives Klima des Wandels zu erzeugen. „Win the hearts and the minds“ – in meiner Karriere habe ich im Guten wie im weniger Guten erfahren, wieviel Wahrheit in dieser kurzen Formel steckt.
Zweimal habe ich in meiner Laufbahn in der Automobilindustrie neue, übergreifende Unternehmensorganisationen für den D-A-CH-Raum aufgebaut. Beim ersten Mal haben war das fachlich gut gemacht und trotzdem traten große Probleme auf, weil sich die Belegschaft in dem einen Ländermarkt durch die plötzliche Verantwortung überfordert, in dem anderen hingegen ignoriert und zurückgesetzt fühlte. Die emotionale Seite wurde völlig unterschätzt.
Im zweiten Fall, mit einem anderen Arbeitgeber, wurde die Belegschaft von Anfang an mitgenommen. Vorstandsmitglieder haben ihre Büros in die Regionen verlagert, Mitarbeiterbefragungen haben geholfen, die Maßnahmen feinzujustieren. Anders gesagt: Der Charme von hohen EBITs und starken Eigenkapitalquoten mag die erste Führungsebene begeistern, in der Breite sind solche Kennziffern für die Belegschaft jedoch oftmals weniger relevant. Man darf die Befindlichkeiten und Ängste nicht unterschätzen; deshalb ist die emotionale Nachsorge so entscheidend. Und dazu gehört, in Krisensituationen als Manager präsent, greifbar und ansprechbar zu sein.
Wer gut führen will, muss sich zeigen, aus der Deckung kommen, „on deck“ sein. Führung ist eine Bringschuld. In herausfordernden Phasen ist es inakzeptabel und nicht zielführend, wenn Führungskräfte im stillen Kämmerlein mit Banken und Beratern Rettungspläne aushecken. Genauso kontraproduktiv ist es, die eigene Agenda so aufzufüllen, dass für Gespräche mit Mitarbeitern keine Zeit mehr bleibt. Die Mitarbeiter stehen immer im Fokus eines Unternehmens. „Führungskräfte führen Menschen und keine Systeme oder Prozesse“, hat der ehemalige US-General Norman Schwarzkopf gesagt. Unter dieser Prämisse sind die Qualität und die Intensität der Kommunikation – gezielt, prägnant, empathisch und mit allen Stakeholdern – für die Akzeptanz und den Erfolg des Krisenmanagements maßgeblich. Unternehmer wie Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie in brenzligen Zeiten unter verschärfter Beobachtung stehen. Jede Geste, jede Äußerung, jede Unachtsamkeit wirkt bei den Menschen viel stärker, als sie es beabsichtigen. Jedes Informationsdefizit wird im Flurfunk und in den Kaffeeküchen mit Gerüchten aufgefüllt. „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Paul Watzlawicks Einsicht ist von ewiger Gültigkeit. In komplexen Krisensituationen gilt sogar: Man kann nicht über-kommunizieren.
Eine ehrliche Analyse der endogenen und exogenen Ursachen, eine innovationsorientierte Krisenreaktion, partizipative Entscheidungsprozesse, präsente Führungskräfte und eine intensive, glaubwürdige Kommunikation mit allen Stakeholdern – diese Ingredienzien nehmen der Krise den Beigeschmack der Katastrophe. Und sie schaffen die Voraussetzung, Komplexität managen und Restrukturierung meistern zu können.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)