Vorangeschickt sei: Es ist wirklich bemerkenswert, wie nutzenorientiert mittelständische Unternehmen über das Zukunftsthema „Künstliche Intelligenz“ nachdenken. Führungskräfte, mit denen ich mich unterhalten habe, arbeiten daran, mithilfe von KI den Fachkräftemangel abzumildern. Sie möchten ihre Mitarbeitenden, etwa Sachbearbeiter:innen im Innendienst, von stupiden Routineaufgaben entlasten und Zeit für anspruchsvolle Tätigkeiten freischaufeln. Keine Frage, meine Gesprächspartner:innen erkennen das immense Potenzial von KI für den Mittelstand – und sind sich darin, diese Spielerei mochte ich mir nicht verkneifen, mit ChatGPT einig.
Die KI-Engine antwortet auf eine entsprechende Frage nämlich, wie folgt: „Künstliche Intelligenz bietet dem Mittelstand zahlreiche Vorteile. Sie kann Mitarbeiter von wiederholenden Aufgaben entlasten, Zeit für anspruchsvollere Tätigkeiten schaffen und dem Fachkräftemangel entgegenwirken. KI ermöglicht die Automatisierung von Geschäftsprozessen, die Verbesserung der Kundenkommunikation durch Chatbots und virtuelle Assistenten sowie die Optimierung von Texten für Marketing- und Werbekampagnen. Die Technologie eröffnet vielfältige Möglichkeiten, um die Effizienz zu steigern und wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Wer wollte dem widersprechen?
Im Fokus stehen derzeit generative KIs, die eigenständig Daten, Texte, Bilder, Musik oder andere Inhalte erstellen – und zwar so, wie man es auch von einem Menschen erwarten würde. Diese KI-Modelle nutzen fortgeschrittene Techniken des Maschinellen Lernens.
ChatGPT, um bei der aktuell bekanntesten Anwendung zu bleiben, arbeitet mit einem Large Language Modell (LLM), in dem ein Datenfundus mit einem neuronalen Netzwerk verbunden ist. Die KI berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einer bestimmten Fragestellung ein Wert auf den nächsten folgt. Je nach Anweisung oder Frage der Nutzer:innen, „Prompt“ genannt, generiert die KI neue Inhalte. Anhand ihrer Ergebnisse können sich solche KI-Engines selbst optimieren.
Wer ChatGPT schon einmal genutzt hat – laut BITKOM immerhin ein Fünftel der Bundesbürger:innen –, der weiß: Viele Ergebnisse sind verblüffend gut und faszinierend. Manchmal liegt die Software aber auch daneben, verarbeitet statistische Scheinkorrelationen und erzeugt „Halluzinationen“ – Zusammenhänge, die es gar nicht gibt. Doch die Qualität steigt im exponentiellen Tempo der digitalen Transformation; tendenziell machen KI-Anwendungen von Version zu Version große Entwicklungsschritte.
Vor diesem Hintergrund vollzieht sich der Wandel zu einer KI-unterstützten Wirtschaft schneller als noch vor wenigen Monaten gedacht. Im Herbst 2022 beschäftigte sich nur gut ein Drittel der deutschen Unternehmen ernsthaft mit KI, wie ebenfalls die BITKOM erhoben hatte. Getrieben vom Hype um ChatGPT dürfte dieser Wert heute bereits deutlich höher liegen. Für den Mittelstand ist es noch früh genug, sich auf das Thema KI lernend, experimentierend und auch ein wenig spielerisch einzustellen. Der Zugang ist mittlerweile erfreulich niederschwellig.
Alle großen IT- und Datenkonzerne sowie viele Start-ups drücken aufs Tempo und integrieren KI in ihre Anwendungen. Mit den KI-basierten „Co-Piloten“ für die Standardsoftware Microsoft 365 erreicht die KI in diesem Jahr Millionen von Arbeitsplätzen ganz automatisch. Wer wollte ernsthaft darauf verzichten, seine Daten mit KI-Unterstützung filtern, E-Mails und Standardkommunikation vorformulieren und Texte der KI optimieren zu lassen? Den Posteingang aufräumen, Teams-Sitzungen protokollieren, intelligente Abfragen in Excel stellen, Präsentationen auf den Punkt gestalten – die KI wird zur Stelle sein.
Somit ist die Eintrittskarte in die vielfältige Welt der KI schnell gelöst. Mit den heute am Markt verfügbaren Lösungen lassen sich so gut wie alle Handlungsfelder eines Unternehmens optimieren. Die App-Economy wandelt sich zur AI-Economy. Genauso, wie wir uns daran gewöhnt haben, dass es für so gut wie alle Aspekte des Berufslebens eine App gibt, können wir jetzt auf eine Vielzahl von generalistischen oder spezialisierten KIs zugreifen.
Um einmal den Fächer zu öffnen: Dass KI-Sprachaufnahmen transkribiert und Texte auf Knopfdruck übersetzt, gehört bereits zum Alltag. KI kann aber zudem das Kundenerlebnis mit cleveren Chatbots und stichhaltigen Produktempfehlungen verbessern. Formalisierte Daten wie Bestellungen, Anträge und Rechnungen lassen sich mit KI automatisiert bearbeiten. Große Textmengen, etwa die fürs Unternehmen relevante Rechts- und Gesetzeslage, kann eine KI vorfiltern und auf wichtige Neuheiten hin durchsuchen. Im Bereich Human Resources hilft KI, den Employee Life Cycle zu steuern. Designaufgaben wie Logos und Illustrationen übernimmt KI ebenfalls. Der Zugang zu Expertenwissen und Management-Know-how wird vereinfacht. Zudem können KIs guten, zumindest grundlegenden Programmcode schreiben. In ambitionierteren Szenarien geht es um KI-optimierte, voll automatisierte Supply Chains und End-to-End-Prozesse. Und wie die verborgenen Wissensschätze in großen Datenbeständen und Dokumentbibliotheken gehoben werden können, ist natürlich ebenfalls ein Thema vieler Anbieter – die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Ohne die Menschen, das nehme ich aus meinen Gesprächen mit, geht einstweilen nichts. Ihre Expertise und Übersicht wird benötigt, um die Resultate von KI-Anwendungen zumindest stichprobenartig zu überprüfen. Schließlich müssen die Ergebnisse plausibel ins Wissensraster des Unternehmens fallen, im kreativen Bereich eine gewisse Originalität aufweisen und sowohl der Compliance als auch den Werten des Unternehmens entsprechen.
KI mag bei vielen Aufgaben eine große Hilfe sein, aber bedingungsloses Vertrauen verdient sie nicht. Maschinelles Lernen hat eben seine Grenzen. Jede KI ist nur so gut wie ihre Programmierung und der Datenfundus, mit dem sie trainiert wird. Nach ein paar Monaten mit ChatGPT wissen wir: Manche Ergebnisse sind austauschbar, auch, weil zu unspezifisch und wenig kreativ gefragt wird. Und nicht zuletzt kann nicht per se ausgeschlossen werden, dass eine KI Menschen diskriminiert. Insbesondere im Bereich Human Resources ist somit Vorsicht geboten, zum Beispiel, wenn eine KI beispielsweise Bewerbungen vorsortieren soll.
„Außer Frage steht, dass durch den Durchbruch der KI, wie wir ihn aktuell erleben, viele Berufsbilder neu zugeschnitten oder gar verschwinden werden. Man kann es Mitarbeitenden nicht verdenken, wenn sie im Kontext von KI um ihre Arbeitsplätze oder um ihre Karrierechancen fürchten.“, sagt Daniel Arcularius.
Somit stehen die Unternehmen vor einer Reihe von Herausforderungen. Auf der Systemseite müssen sie klären, wie sie KI in ihre bestehenden IT-Lösungen integrieren können. Im Kontext von Datenschutz und Datensicherheit stellt sich die Frage, wie sich die KI bedenkenlos und rechtssicher einsetzen lässt. Zudem gilt es, den Kern des langfristigen Erfolgs – das intellektuelle Kapital in Form von Patenten oder Gebrauchsmustern – wie in einem virtuellen Safe zu schützen.
Cloudbasierte Lösungen, so bequem und zugänglich sie sein mögen, mögen dafür nicht immer erste Wahl sein. On-Premise-KIs, die auf den Servern des Unternehmens liegen und einen virtuellen Zaun um die Datenbestände ziehen, stellen mitunter die sicherere Alternative dar. Nicht zuletzt muss die Datenqualität stimmen, wenn eine KI mit unternehmenseigenen Daten arbeiten soll. Der alte IT-Grundsatz „shit in, shit out“ gilt auch in diesem Kontext. Niemand sollte eine KI auf veralteten oder unvollständigen Daten trainieren lassen.
Außer Frage steht, dass durch den Durchbruch der KI, wie wir ihn aktuell erleben, viele Berufsbilder neu zugeschnitten oder gar verschwinden werden. Man kann es Mitarbeitenden nicht verdenken, wenn sie im Kontext von KI um ihre Arbeitsplätze oder um ihre Karrierechancen fürchten. Ein achtsames Change Management ist angebracht, um Ängste und Ressentiments gegenüber dem Technologiesprung ernst zu nehmen und ein chancenorientiertes Umfeld zu schaffen. Schließlich können viele Mitarbeitende ihre Fähigkeiten und Kompetenzen durch Co-Creation mit KI-Anwendungen deutlich erweitern.
Jedenfalls sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, die Belegschaft partizipativ in die Pläne zur Künstlichen Intelligenz einzubeziehen und adäquate Qualifizierungen und Schulungen anzubieten. Der Betriebsrat muss aufgrund von Informations- und Mitbestimmungsrechten in vielen Fällen ohnehin beteiligt werden.
Kurzum: Gesellschaft und Wirtschaft haben einen Tipping Point erreicht, einen von einer Disruption verursachten Wendepunkt, von dem es kein Zurück mehr geben wird. Für die Wirtschaft beginnt jetzt eine neue Zeitrechnung, die KI-Ära. Unternehmer:innen wie Führungskräften bietet sich noch ein ausreichend großes Zeitfenster, ihre Optionen sorgfältig zu ergründen. Dabei ist zu bedenken, welche Potenziale sich aus der Kombination von Künstlicher Intelligenz mit vorhandenen digitalen Assets wie Sensorik und Internet der Dinge (IoT), 3D-Druck und Robotik, Analytics und Enterprise Resource Planning (ERP) ergeben. Indes sollte sich die Wirtschaft hierzulande nicht noch einmal zu lange zieren wie seinerzeit beim Internet, als sie sich leicht orientierungslos in diffusem „Neuland“ wiederfand.
Wie sagte einer meiner Gesprächspartner so treffend? „KI hat ein großes Potenzial, um nicht-emotionale oder stumpfsinnige Arbeit zu erledigen oder gar ganz zu vermeiden.“ Das ist doch ein guter Anfang.
Der Startschuss ist gefallen. Wann steigen Sie mit ein?
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)