Der direkte Zusammenhang zwischen Kultur und Erfolg wird von Führungskräften kaum mehr bestritten und in Studien auch immer wieder empirisch bestätigt. Trotzdem fällt es vielen Unternehmen schwer, ihre Organisation und ihre Mitarbeiter, ihr Geschäftsmodell und ihre Strategie mittels einer adäquaten Kulturarbeit auf eine Wellenlänge zu bringen. Ganz aktuell erleben wir die Folgen solcher Versäumnisse: Als Reaktion auf die Schutzbestimmungen in der Covid-19-Pandemie wurden vielerorts neue Technologien eingeführt und verteilte Arbeitsstrukturen geschaffen. Die Belastung der Mitarbeiter ist deutlich gestiegen. Dass mit diesen krisenbedingten Maßnahmen zwingend eine Weiterentwicklung der Kultur einhergehen muss, blieb bislang jedoch weitgehend unbeachtet. Die Hays-Studie „Wissensarbeit im Digitalen Wandel – Zwischen Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung“ liefert dazu eine ernüchternde Bestandsaufnahme.
Vielleicht handelt es sich um ein typisch westeuropäisches Phänomen: Untersuchungen wie der „Global Culture Survey“ zeigen, dass es den Unternehmen in unserer Hemisphäre besonders leicht fällt, eine Strategie primär über die Struktur und die Systeme auf ihre Organisation zu übertragen. An ihre Kultur trauen sich die meisten Unternehmen nicht heran – zumindest nicht so strategieorientiert und grundlegend, wie es gerade jetzt notwendig wäre.
Eine Unternehmenskultur ist eben viel mehr als ein paar plakative Glaubenssätze, die in den Fluren aufgehängt werden. Sie umfasst ein breites Spektrum an definierten Standards und Normen, aber auch an Prämissen und Anschauungen, die sich historisch ausgebildet haben und in überlieferter Form das Unternehmen kennzeichnen. Das Kulturverständnis der Mitarbeiter ist deshalb immer auch ein Ergebnis ihrer Sozialisation im Unternehmen. Hierin mag der weitverbreitete Irrtum begründet liegen, dass Kultur weder präzise messbar noch effektiv zu managen sei. Das Gegenteil ist richtig. Kultur lässt sich sehr wohl gezielt entwickeln – kongruent zur Strategie und zum Zukunftsbild des Unternehmens.
Das aus unserer Sicht geeignetste Modell für eine zielgerichtete Kulturentwicklung geht auf Professor Clare W. Graves (1914 – 1986) zurück. Der Psychologe hat am Union College in New York geforscht und parallel dazu Unternehmen, Kliniken und Bildungsinstitute beraten. Graves hat wesentliche Erkenntnisse aus Biologie und Neurobiologie, Psychologie und Anthropologie, Soziologie und Systemtheorie zu einem empirisch gesicherten, psychologischen Entwicklungsmodell verdichtet. Es beruht auf den konstituierenden Elementen einer Unternehmenskultur – den Werten. Werte treiben die Menschen an. Sie geben Sinn und Orientierung. Werte regulieren, was als „richtig“ oder „falsch“ gilt. Solange die Menschen analog zu ihren Werten arbeiten können, macht sie das zufrieden und erfolgreich. Müssen sie ihre Wertestruktur verlassen, stellen sich Frust und Enttäuschung ein.
Typische Wertemerkmale in den Ebenen nach Prof. Graves gemäß „9 Levels of Value Systems“.
Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt.
Basierend auf Graves‘ Forschung hat sich das sogenannte „9 Levels of Value Systems“ entwickelt. Dabei handelt es sich um eine praxisbewährte Umsetzung seiner Erkenntnisse, mit deren Hilfe sich die Unternehmenskultur strategisch und messbar auf ein erwünschtes Soll-Bild herausbilden lässt.
Die neun Levels bauen aufeinander auf und bilden den dynamischen, persönlichen Entwicklungsprozess der Menschen ab. Level 1, das die fundamentalen Grundbedürfnisse beschreibt, sowie Level 9, das auf eine charismatisch-spirituelle Ebene weist, bleiben bei der Beratung von Unternehmen ausgeklammert. Entscheidend sind die sieben Entwicklungsstufen zwischen diesen Polen: Menschen, die Level 2 zugeordnet werden, sind Teil einer Gemeinschaft mit durchaus patriarchalischen Strukturen. Um einmal die Verbindung zur Unternehmensrealität herzustellen: Wer hier ein traditionsreiches, noch von der Gründergeneration geprägtes Familienunternehmen vor Augen hat, liegt genau richtig. Auf Level 8 hingegen werden Menschen mit einer holistischen Weltsicht sowie altruistischen Bedürfnissen verortet. Sie handeln ganzheitlich und nachhaltig – und sind in vielen Start-ups zu finden.
Wir sind überzeugt, dass in einer Unternehmens- oder Teamkultur immer alle Wertesets der Level 2 bis 8 vorhanden sein sollten. Die entscheidende Frage ist jedoch: In welcher Ausprägung? Welcher Wertemix führt zu einer Unternehmenskultur, die als Motivationsschub wirkt und auf ein höheres Leistungsniveau führt? Das lässt sich in einem strukturierten Prozess und in einem überschaubaren Zeitraum von sechs bis acht Wochen klären:
Mit dieser Herangehensweise lässt sich eine einzelne Abteilung, in der bisher Struktur, Wissen und Status zählten, zu einem hybriden oder virtuellen Team ‚umbauen‘, in dem Vernetzung, Kollaboration und Integration gefragt sind. Ebenso können mit diesem Ansatz umfassende Transformationsszenarien – zum Beispiel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, von der Planbarkeit des Marktgeschehens zur Volatilität, von Arbeitgeber- zu Arbeitnehmermärkten – auf der Unternehmensebene kulturell aufgefangen werden.
Wer an dieser Stelle vor einem systematischen, bewährten Prozess wie den 9 Levels of Value Systems noch zurückschreckt, kann auch erst einmal mit intensiven Mitarbeitergesprächen sowie regelmäßigen Reflexionsrunden – ich nenne sie Kulturcheckpoints – beginnen. Schon der Diskurs über Kultur und Werte ist für viele Organisationen ein Fortschritt. Doch welches Vorgehen auch präferiert wird: Die Zeit dafür ist jetzt.
Die Märkte, die Unternehmen und die Kunden haben sich seit Ausbruch der Pandemie gravierend verändert und wandeln sich weiter. Vieles erscheint zwar noch ungewiss. Außer Zweifel steht jedoch, dass Unternehmen auf eine zunehmend digitale, vernetzte und unberechenbare Welt flexibel, agil und adaptiv antworten müssen. Darauf müssen Organisationen ausgerichtet, dafür müssen die Menschen gewonnen werden. Den Unternehmen bleibt keine Wahl: Es gilt, eine tragfähige Wertebrücke ins „New Normal“ zu bauen.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)