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Null Toleranz bei sexueller Belästigung

Geschrieben von Dr. Thomas M. Fischer | Sep 19, 2022 12:07:18 PM

Kürzlich hat mir eine Kollegin zugetragen, dass sie von einer Führungskraft eines unserer Kunden sexuell belästigt wurde. Das hat mich schwer schockiert. Dieser Vorfall führte mir nochmals vor Augen, wie wichtig Respekt, Sicherheit und gegenseitige Achtsamkeit für eine Unternehmenskultur sind, die auf diverse Teams setzt.

Wettbewerbsfähigkeit entsteht nur aus guten Konzepten, kreativen Ideen, nachhaltigen Produkt- und Servicelösungen von sich frei fühlenden Menschen. Und all das funktioniert eben nur mit einem Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich voll entfalten und einbringen können – ohne Einschränkung, ohne Entwertung und Bewertung aufgrund ihres individuellen Geschmacks oder Aussehens, ihrer persönlichen Vorlieben, ihrer ethnischen Herkunft oder Hautfarbe, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihres Alters oder Geschlechts, ihres Handicaps oder ihrer sexuellen Identität.

Das ist nicht nur meine feste Überzeugung, sondern geltendes Recht, festgeschrieben nicht zuletzt in Artikel I des Grundgesetzes als Würde des Menschen, die unantastbar ist. Sie zu achten und zu schützen ist staatliche Verpflichtung. Fürsorge zum Schutz gegen jedwede Benachteiligung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Auszubildende wie Bewerbende, kurzum für alle unselbstständig Beschäftigten bieten in ähnlicher Schreibweise der erste Artikel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) – besser bekannt als sogenanntes Antidiskriminierungsgesetz – sowie Paragraf 75 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes. Und nicht zuletzt ist es die Aufgabe und Verantwortung von Führungskräften, ein Umfeld zu schaffen, in dem Diskriminierung keinen Nährboden findet.

Und so können Sie es sich vielleicht vorstellen, wie geschockt ich bin, wenn Mitarbeitende der Allfoye entwertet oder herabgesetzt, beleidigt oder sexuell belästigt werden.

Was ist nun unserer Kollegin genau vor Wochen passiert?

Sie wurde im Workshopkontext von einer Führungskraft unseres Kunden mehrmals in völlig inakzeptabler Weise verbal – sowohl mündlich wie schriftlich (über Post-it-Zettelchen) – sexuell intendiert angesprochen und belästigt. Ohne Zeugen, aber mit schriftlichem „Beweismaterial“. Wie so oft, passierte es wiederholt und vermeintlich beiläufig, einzeln genommen schon grenzwertig, in der Summe absolut nicht tolerierbar.

Trotzdem hat sie versucht, das irgendwie zu handeln, obwohl es sie massiv belastet hat – und nachhaltig beschäftigt. Das berührt mich sehr. Sie hat Rücksicht genommen auf die Allfoye und das Verhalten mehr schlecht als recht ausgehalten, um unsere Kundenbeziehung und den Erfolg des Workshops nicht zu gefährden.

Kolleginnen vor Kunden

Das ist das Entscheidende, was mir nun primär ein Anliegen ist und was ich verdeutlichen möchte: Egal, wie meine Kollegen und meine Kolleginnen – und die trifft es natürlich nach wie vor in erster Linie – auf sexuelle Belästigung kundenseitig reagieren, es ist immer die richtige Reaktion. Wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen, weil sie sich bedroht, belästigt oder in die Enge getrieben fühlen, dann ist jede Reaktion, die sie zeigen, in dem Moment die für sie richtige. Das akzeptiere ich nicht nur, da erhalten sie von mir volle Rückendeckung. Im Zweifel – nämlich, wenn vom Kundenunternehmen keine konsequente Reaktion erfolgt – schieße ich bei jedweder Form von Diskriminierung oder sexueller Belästigung die Kundenbeziehung umgehend und für immer in den Wind.

Sie haben richtig gelesen: Mir geht das Wohlergehen meiner Kolleginnen und Kollegen weit über das vermeintliche Festhalten an einem Auftrag. Um es klar zu sagen: Die Macht, die ein Kunde gegebenenfalls meint zu besitzen und ausüben zu können, indem er meine Kollegin belästigt, die ist keine.

Darauf kann sich jede und jeder bei der Allfoye verlassen. Diese Haltung ist im Dienstleistungsgewerbe offensichtlich zwingend, so meine erneut gewonnene Überzeugung, um die KollegInnen stark zu machen und mit dem Selbstbewusstsein auszustatten – um sich geschützt zu wissen und um ihren Job machen zu können. Das ist ein und dasselbe. Sie brauchen die Gewissheit, dass es immer richtig ist, wie sie reagieren... hier wiederhole ich mich gerne. Dieses Signal ist aus meiner Sicht unerlässlich.

Unsere konkreten Maßnahmen

Was haben wir nun nach diesem Übergriff auf unsere Kollegin konkret unternommen? Wir haben erst einmal geklärt, ob sich jemals jemand in unserem Mitarbeitendenkreis von Kollegen der Allfoye diskriminiert oder sexuell belästigt gefühlt hat. Das ist Gott sei Dank nicht der Fall. Ohnehin kann oder muss ich wohl von Glück sprechen, dass ich in meiner 22-jährigen Unternehmertätigkeit mit keinem Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert worden bin. 

Aber zurück in die Gegenwart: Nach einer ersten Austauschrunde unter unseren Kolleginnen sowie einem offenen und ausgedehntem Meeting mit allen in der Allfoye haben wir nochmals verbindliche Absprachen für den Kundenkontakt getroffen: In der Vorbereitung stimmen wir nicht nur die jeweiligen Rollen ab, die unsere Beschäftigten in Workshopformaten einnehmen, sondern reden im Vorfeld auch explizit über die individuellen Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche der Mitarbeitenden.

Die sexuelle Belästigung, die unsere Kollegin erleben musste, hat uns nochmals sensibilisiert, wofür ich dankbar bin. Die Diskussion hat dazu geführt, dass wir mehr aufeinander achten. Wir beschützen uns gegenseitig. Und das ist ja der zweite wichtige Faktor: Nicht nur, dass die Kolleginnen wissen, ‚der Chef steht hinter mir‘, sondern dass sie auch wissen, die Kolleginnen und Kollegen aus dem Projekt in den Workshopsituationen stehen ihnen genauso beiseite.

Und das heißt: Achtet auf die Signale, achtet auf eure Kolleginnen, ohne dass wir sie jetzt mit Samthandschuhen anpacken müssen. Ganz schlicht: Seid euch bewusst, es kann passieren. Und dann müssen wir helfen und einschreiten, weil wir übergriffiges Verhalten nicht tolerieren.

 



„Im Zweifel – nämlich, wenn vom Kundenunternehmen keine konsequente Reaktion erfolgt – schieße ich bei jedweder Form von Diskriminierung oder sexueller Belästigung die Kundenbeziehung umgehend und für immer in den Wind.“, sagt Dr. Thomas M. Fischer.

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz läuft ja in der Regel subtil ab. Also, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Kollegin offen begrapscht wird. Es geht vielmehr genau um diese unterschwelligen, schleichenden Häufungen im Verhalten, denen man einen Riegel vorschieben muss. Gerade in Zeiten von interaktiven Workshopformaten, vielfach umgehendem, gegenseitigem „Du“ und mit legerer Klamotte ohne Schlips und Anzug dürfen die natürliche menschliche Distanz nicht missachtet und der beidseitige Respekt im Umgang nicht verletzt werden.

Jeder Dienstleistungsunternehmer weiß, wie wichtig langfristige Kundenbeziehungen sind. Und ich muss auch niemandem erzählen, dass Dienstleistungen insbesondere auf dem Zwischenmenschlichen basieren und die Beziehungspflege die zentrale Rolle einnimmt. Aber deswegen in Kauf zu nehmen, dass solche Übergriffe bagatellisiert werden, um die Kundenbeziehung ja nicht zu gefährden – da darf man sich erst gar nicht hineinbegeben. Das darf man nicht machen, sondern muss im Zweifel sagen: Schluss!

Im konkreten Fall habe ich den CEO des Kundenunternehmens angerufen, der ebenso schockiert war wie ich. Er hat das Thema der sexuellen Belästigung umgehend auf seine Agenda gesetzt, seine eigenen Mitarbeiterinnen zu einer vertraulichen Runde eingeladen und prüft weiterhin gegebenenfalls notwendige Schritte gegenüber der betreffenden Führungskraft. Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, all das hätten wir längst hinter uns, aber die Realität ist leider eine andere.

Vor allem Frauen betroffen

Dass bei Schutz, Prävention und Fürsorge gegen jede Form sexueller Belästigung nach wie vor elementarer Nachholbedarf herrscht, zeigt die jüngste repräsentative Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2019. 13 Prozent der Frauen und fünf Prozent Männer waren in den drei Jahren zuvor von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. 82 Prozent aller Betroffenen wurden ausschließlich oder überwiegend von Männern belästigt. Bei den Frauen waren es zu 98 Prozent männliche Belästigende. Mehr als die Hälfte der Betroffenen (53 Prozent) gab an, dass sie sexuelle Belästigung durch Kunden, Klienten oder Patienten erfahren haben.

Grundsätzlich ist das Risiko für sexuelle Belästigung in der Dienstleistungsbranche am höchsten. Eine erhöhte Gefahr besteht außerdem für weibliche Führungskräfte (22 Prozent), für Frauen in akademischen Berufen (14 Prozent) sowie für Frauen in technischen und typischen Männerberufen (13 Prozent).

Was Schwere und Art der sexuellen Belästigung betrifft, so kam es am meisten zu unangemessenen verbalen Kommentaren und Witzen (62 Prozent), gefolgt von Blicken und Gesten (44 Prozent) sowie zu unangemessenen intimen oder sexualisierten Fragen (28 Prozent). 26 Prozent der Befragten waren von unerwünschten Berührungen oder Annäherungen betroffen. Selten handelte es sich insgesamt um Einzelfälle, denn 83 Prozent der Betroffenen erlebten mehr als eine solche Situation.

Erschreckend ist, dass nur vier von zehn Betroffenen mit ihren KollegInnen, Vorgesetzten oder anderen betrieblichen Ansprechpartnern über die Belästigung redeten und lediglich 23 Prozent sich offiziell beschwerten – etwa beim Vorgesetzten, beim Betriebsrat oder bei der betrieblichen Beschwerdestelle.

Übrigens: Aus Paragraf 13 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) folgt, dass jeder Arbeitgeber eine betriebsinterne Beschwerdestelle einrichten und selbstverständlich auch bekannt machen muss. (siehe Kasten) Indes wussten etwa 40 Prozent der Befragten nichts von internen Anlaufstellen bei Diskriminierung und sexueller Belästigung. Das ist – wie ich meine – umso bestürzender, als dass sich bis zu jede vierte betroffene Person durch die Handlungen „mäßig bis sehr stark bedroht oder ausgeliefert beziehungsweise ohnmächtig fühlte“. Jede zweite bis dritte Person – Frauen häufiger als Männer – fühlte ein „mäßiges bis sehr starkes Gefühl“ der Scham, Erniedrigung und Abwertung und damit einhergehend eine starke psychische Belastung.

Ohne Umschweife: Der himmelweite Unterschied zwischen einer sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und einem Flirt unter Vertrauten, einem Witz und einer einladenden Geste unter langjährigen Kollegen ist das beiderseitige Einverständnis. Das ist einfach nicht gegeben, wenn Mitarbeitende, Vorgesetzte, Führungskräfte, Kunden oder weitere Vertragspartner andere Menschen unangemessen berühren oder mit sexuellen Anspielungen angreifen.

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – Rechtliches und praktische Handlungsempfehlungen

„Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist jedes sexualisierte Verhalten, das von der betroffenen Person nicht erwünscht ist. Dazu zählen nicht nur verbale und physische Belästigungen, wie sexualisierte Sprüche und unerwünschte Berührungen, sondern auch non-verbale Formen wie anzügliche Blicke oder das Zeigen pornografischer Bilder.“ So fasst die Antidiskriminierungsstelle die Gesetzeslage zusammen.

All das ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz in Artikel 3 Absatz 4 untersagt – unabhängig davon, ob es sich live im Büro oder auf dem Weg dahin ereignet, ob es online, auf Unternehmensevents oder auf Dienstreisen auftritt.

Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend und sollten allseits bekannt sein. Sie reichen von Schlafstörungen, über Hilflosigkeits-, Schuld- und Schamgefühle sowie Angst- und Panikanfälle bis hin zu Langzeitfolgen wie Konzentrationsschwierigkeiten, vermindertes Selbstvertrauen, Depression und Arbeitsunfähigkeit.

Opfer haben nicht nur das Recht, sich nach Paragraf 13 AGG zu beschweren, sondern können gegebenenfalls ihre Arbeitsleistung verweigern (Paragraf 14 AGG). Bei sexueller Belästigung müssen Arbeitnehmer mit einer Abmahnung und bei wiederholtem Fehlverhalten mit einer Kündigung rechnen. Kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht des Arbeitsschutzes nicht nach, kann nach Paragraf 15 AGG ein Anspruch auf Schadensersatz gestellt werden. Darüber hinaus droht – je nach Schwere – eine Geld- oder Freiheitsstrafe, wenn die Betroffenen die Tat anzeigen und sie strafrechtlich verfolgt wird. Wer noch keine Beschwerdestelle eingerichtet hat, dem empfehle ich diese Broschüre zur Einrichtung einer Beschwerdestelle als Download.

Wir haben uns mit der Beschwerdestelle unserer Muttergesellschaft ausgetauscht. Deren Equal Treatment Board ist ein aus zwei Kolleginnen und einem Kollegen besetztes Gremium, das gruppenweit aufgestellt ist, über langjährige Erfahrungen verfügt, rechtlich fundiert berät und aufgrund seiner Zusammensetzung die im AGG aufgeführten Themenfelder umfänglich abdeckt. Die Kolleg:innen stehen als unabhängige Ansprechpartner zur Verfügung, führen wenn gewünscht Mediationsgespräche durch und bieten darüber hinaus Schulungen zum Themenkomplex Gegenseitiger Respekt, Fairness und Integrität an.


Zusätzlich möchte ich anregen, dass Vorgesetzte und Führungskräfte das Thema der Belästigung und Diskriminierung aktiv angehen. Denken Sie nicht in Einzelfällen, sondern schaffen Sie eine offene Kultur, in der darüber gesprochen werden kann. Initiieren Sie zunächst unter den Frauen eine Austauschrunde in Ihrem Unternehmen und tragen Sie die Diskussion ins gesamte Team. Wer zusätzlich seinen Mitarbeitenden noch eine externe Beratung anbieten möchte, der findet sie bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes unter diesem Link.

Jede und jeder Betroffene kann sich selbstverständlich professionelle Unterstützung bei externen Beratungsstellen vor Ort suchen oder sich direkt bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes telefonisch unter 0800-5465465 montags bis donnerstags in der Zeit zwischen 9 bis 15 Uhr melden.

 

Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)