Derzeit erleben wir in schnellem Takt, wie die verschiedenen Systeme, in denen wir uns bewegen, völlig unberechenbar reagieren. Nicht umsonst haben Fachbegriffe wie Disruption und Exponentialität ihren Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Sie stehen für Paradigmenwechsel und Dynamiken, die viele Menschen und auch Organisationen überfordern. Kein Wunder, sind wir doch anthropologisch darauf programmiert, linear zu denken. In unserer Vorstellung entwickeln sich die Dinge vielleicht mit Schwankungen, aber stetig. Und wir suchen ständig nach Mustern, um unsere Umwelt zu begreifen, unsere Intuition zu schulen und aufmerksam gegenüber Gefahren zu bleiben. Der Säbelzahntiger hockt immer noch im Gebüsch, und wir versuchen mit allen Sinnen, ihn früh genug zu entdecken und unser Leben zu retten.
Das 21. Jahrhundert ist jedoch von Transformationen und Systemkrisen gekennzeichnet, in denen die Zusammenhänge kaum mehr erkennbar sind, die Wechselwirkungen verborgen bleiben und die Folgen unabsehbar erscheinen. Die Lage erscheint chaotisch. Von der Etymologie dieses ursprünglich griechischen Begriffs ausgehend, blicken wir tatsächlich in tiefe Kluften:
Die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz (KI) werden vielleicht Teil der Antwort auf diese kaum noch zu erfassende, systematische Komplexität sein, produzieren aber gleichzeitig neue Herausforderungen: KI lässt die Komplexität dieser Herausforderungen noch einmal sprunghaft ansteigen. Obwohl wir noch am Anfang der digitalen Transformation stehen, sind viele Entscheidungswege in einer datengetriebenen und von Algorithmen organisierten Sphäre undurchschaubar geworden.
Kürzlich fuhr ich mit einem Uber-Fahrer, der sich im Gespräch dankbar gegenüber Uber für die lukrativen Fahrten an diesem Tag zeigte. Er dankte auch Gott dafür, ihm heute etwas Gutes gegeben zu haben. Dass ihm allein Algorithmen nach einem Abgleich mehrerer Datenpunkte diese Aufträge zugewiesen haben, kam ihm zumindest in jenem Moment nicht in den Sinn. Und: Je leistungsfähiger und „intelligenter“ die digitalen Systeme werden, desto mehr drängt sich eine entscheidende Frage auf: Nach welchen ethischen Grundsätzen entscheiden sie? Wer erhält eine Leistung, einen Bonus einen Zugang und wer nicht?
Über Jahrzehnte haben sich die Unternehmen darin geübt, die zunehmende Komplexität ihres Umfelds durch die VUKA-Brille zu betrachten. Volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (ambiguitär) – diese Vorstellung wurde in den späten 1980er-Jahren vom US-Militär entwickelt, als die Welt sich nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu sortieren begann. VUKA stammt also aus einer Zeit, in der sich der Eiserne Vorhang hob, Deutschland die Wiedervereinigung feierte, die erste E-Mail versendet wurde und das Internet von einer Idee zu einem Produkt reifte. Nach und nach avancierte VUKA zu einem hilfreichen Filter, der das Verständnis einer vernetzten und sich dynamisch entwickelnden Umwelt erleichterte. Unternehmen begannen, multioptionale Szenarien und Strategien zu entwickeln, öffneten sich für Kooperationen und sogar für die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern („Co-Competition“).
Aber charakterisiert das Akronym VUKA auch unsere Gegenwart und Zukunft noch treffend, er-öffnet es nach wie vor eine hilfreiche Perspektive auf die undurchsichtigen Zusammenhänge? Zweifel sind angebracht. VUKA stellt eigentlich keinen großen Erkenntnisgewinn mehr dar, sondern ist gelernte Realität. Die Welt ist heute eine andere und das Konzept kann dazu verleiten, in der Ausrichtung und im „Big Picture“ eines Unternehmens zu kurz zu springen.
Hier kommt ein Gedanke ins Spiel, den der US-amerikanische Zukunftsforscher Jamais Cascio unter dem Eindruck der Corona-Pandemie wie einen Stein ins Wasser geworfen hat und der seither konzentrische Kreise zieht. Der Futurist stellt VUKA ein neues Akronym entgegen und nennt es BANI: brizzle, anxious, non-linear, incomprehensible.
Untergang oder Chance? Letzteres! „Wenn wir BANI-Filter anwenden und akzeptieren, dass die Systeme brüchig, angsteinflößend, nicht-linear und unverständlich sind, ergeben sich neue Antworten und Anforderungen. Positiv betrachtet, beschreibt BANI auch eine Welt, in der vieles möglich ist und gelingen kann“, so Anja Failer, Director bei der Allfoye Managementberatung und Expertin für Agilitätskonzepte und -umsetzung in Unternehmen.
Der moderne Mensch gleicht ein wenig seinen Vorfahren im ausgehenden Mittelalter. Viel ist in Bewegung, aber er weiß nicht genau, was und warum. Aber anders als damals, als es einer Elite aus Fürsten, Wissenschaftlern und Künstlern bedurfte, um die Tür zur Erkenntnis – genannt Renaissance – auf-zustoßen, verfügen wir heute über Bildung, kollektive Intelligenz und leistungsfähige Organisationen. Dem ganzen BANI-Chaos können wir als Menschen und Unternehmen etwas entgegensetzen: unsere Lernfähigkeit. Wenn wir BANI-Filter anwenden und akzeptieren, dass die Systeme brüchig, angsteinflößend, nicht-linear und unverständlich sind, ergeben sich neue Antworten und Anforderungen. Positiv betrachtet, beschreibt BANI auch eine Welt, in der vieles möglich ist und gelingen kann.
Wer sagt denn, dass nicht Ihr Unternehmen das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben kann? Dazu muss eine Organisation eine innere Stärke und Überzeugung entwickeln, die vielfältigen Herausforderungen meistern zu können. Agile Methoden, datenbasierte Prozesse, Diversität sowie eine Kultur der Partizipation und des Vertrauens sind gefragt, damit Teams und Mitarbeiter den rasanten Wandel flexibel, schnell und intuitiv adaptieren können. In der BANI-Ära benötigen Menschen den Mut und das Zutrauen, Entscheidungen zu treffen, die nicht bis ins letzte Detail durchdacht sind. Der Weg wird mehr und mehr zum Ziel. Die Qualität einer Entscheidung misst sich zunehmend an der gemeinsamen Idee von Kundenorientierung und Wertschöpfung. Anders gesagt: Der Leitstern, der Unternehmen durch die Untiefen der BANI-Welt führt, ist ihre Haltung.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)