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Familienverfassung: die Familiencharta

Geschrieben von Diana Tönsmann | Jan 14, 2025 12:16:32 PM

Generationenübergreifend denken und nachhaltig wirtschaften – das ist die DNA vieler deutscher Familienunternehmen. Doch für die Gesellschafterinnen und Gesellschafter ist es mitunter leichter gesagt als getan, die Gegenwart fest im Blick zu behalten, gleichzeitig in die Zukunft zu schauen und dabei auch an die übernächste Generation zu denken. Davon zeugen vereinzelte Beispiele von Familienunternehmen, deren Eigentümer: innen sich schlagzeilenträchtig und auf offener Bühne streiten. Ihre Konflikte entzünden sich an Nachfolgethemen oder Personalien, an der Unternehmens- oder Akquisitionsstrategie, an Gedankenspielen um den Verkauf des Unternehmens oder einzelner Sparten und an der Ausschüttungspolitik. Kurzum: Es geht um Geld, Macht, Einfluss – und große Emotionen.

Solche Negativbeispiele haben zumindest einen Nutzen: Sie illustrieren den hohen Stellenwert einer durchdachten und gelebten Governance auf Seiten der Eigentümer:innen. Insbesondere, wenn im Laufe der Jahrzehnte die Anzahl der Familienmitglieder stark gestiegen ist und sich die Familie über Generationen verzweigt hat. Gerade bei traditionsreichen, „alten“ Familienunternehmen zählen Gesellschafterkreise mitunter dutzende oder gar hunderte von Mitgliedern. Dass hier unterschiedliche Lebensentwürfe, Wertestrukturen und ökonomische Prioritäten aufeinandertreffen, ist nur allzu menschlich. Kontroverse Fragen kommen unausweichlich irgendwann auf den Tisch: Wie viel Gewinn wird in die Zukunft des Unternehmens investiert, wie viel soll ausgeschüttet werden? Wie wird die Nachfolge an der Spitze des Unternehmens geregelt? Darf die Geschäftsführung mit einer erfahrenen Führungskraft von außen besetzt werden, oder haben interessierte Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Gesellschafterkreis ein Vortrittsrecht? Wird der strategische Kurs einvernehmlich von der Familie getragen, sodass die Unternehmensleitung und die Mitarbeitenden Rückendeckung spüren? Was hat eigentlich Priorität – das Unternehmens- oder das Individualinteresse?

 

Ein Manifest für die Zukunft

Für Familienunternehmen zahlt es sich deshalb aus, wenn sich die Eigentümerfamilie auf ein gemeinsames Verständnis von Werten und Zielen, Rollen und Spielregeln verständigt und diese Übereinkunft in einer Familiencharta verbrieft. Als ebenso friedenserhaltende wie zukunftsweisende „Verfassung“ stellt eine Charta sicher, dass die Schnittstelle zwischen Familie und Unternehmen verlässlich und vertrauensvoll gemanagt werden kann. Sie hilft der Familie, sich selbst zu leiten und zu verwalten. Nicht zuletzt setzt die Familiencharta ein normatives Gerüst sowie einen gestalterischen Rahmen für die strategische Entwicklung des Unternehmens.

Konkret definiert eine Familiencharta wesentliche Prozesse, die Besetzung von Gremien und Verantwortlichkeiten auf Gesellschafter:innenseite. Darüber hinaus regelt sie fundamentale Fragen, etwa zu Generationsübergängen, bevor sie zur Belastung werden. Rechtlich bindend ist sie indes nicht, bezieht aber ihre Wirkungskraft aus einer besonderen Quelle: Es handelt sich um eine Selbstverpflichtung der Familie mit stark emotionalem Charakter. Wunsch und Wille der aktuellen Generation für die kommenden Generationen kommen darin zum Ausdruck.

Wie eine Charta erarbeitet und ausformuliert wird, hängt von der individuellen Konstellation und Historie der Familie ab. Jede Unternehmerfamilie hat ihre spezifischen Eigenschaften. Beispielsweise variieren die Größe und Ausrichtung des Unternehmens, die Anzahl der Familienstämme und auch die geographische Verteilung der Familienmitglieder.

Jeder Chartaprozess ist individuell

Ein Chartaprozess sollte daher so gestaltet werden, dass er die Eigenheiten einer Eigentümerfamilie würdigt. Gespräche und gemeinsame Workshops prägen das Verfahren und münden schließlich in einen Text, hinter dem sich die Familie mehrheitlich versammeln kann. Die Erfahrung zeigt: Der kollektive Weg ist ebenso wichtig wie das finale Schriftstück selbst. Dass sich die Familienmitglieder gründlich miteinander austauschen, wesentliche Aspekte ihres Miteinanders aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und auch Konflikte adressieren, hat einen Wert an sich. Sie nehmen die Familie und ihre Beziehungen untereinander von einer anderen Seite wahr. Alles sollte auf den Tisch kommen: Konsense wie Kontroversen, Verbindendes wie Brüche. Schlussendlich erleben die Gesellschafterinnen und Gesellschafter auch, wie gut sie miteinander Lösungen entwickeln und zielführende Kompromisse schließen können. Kurzum: Der Chartaprozess schweißt Familien in der Regel stärker zusammen.

Die drei Sphären der Familienunternehmen

Zu Beginn des Prozesses werden grundlegende Themen und Fragestellungen adressiert, die alle Sphären eines Familienunternehmens umfassen: Die Unternehmenssphäre, die Gesellschaftersphäre und die Familiensphäre. Sie bilden inhaltliche Schnittmengen – aber es gibt eben auch nicht überschneidende Bereiche. Vor diesem Hintergrund gilt es, sich möglicher Fliehkräfte in jedem der drei Handlungsfelder bewusst zu werden. Deshalb kommen sensible Themen besser umgehend zur Sprache. „Altersgrenzen für den Ein- und Ausstieg“, „Familienzugehörigkeit von eingetragenen oder nicht eingetragenen Lebenspartnerschaften“, „Umgang mit Familienmitgliedern in Not“– das sind typische Beispiele. Je klarer solche Aspekte in der Charta angesprochen werden, desto einfacher wird das zukünftige Miteinander. Das Risiko, dass Einzelinteressen überhandnehmen und wichtige Entscheidungen blockieren – oder sogar die Wettbewerbsfähigkeit und Unabhängigkeit gefährden –, sinkt deutlich. Somit kommt dem Interessensausgleich im Chartaprozess große Bedeutung zu: Wenn die kritischen Punkte erst einmal erkannt worden sind, fällt es in der Regel leichter, eine Balance zwischen Rationalität und Emotionalität zu finden.

Eine mit Ruhe, Reflexion und offener Kommunikation erarbeitete Familiencharta wirkt sich positiv auf das kollektive Verständnis von Kultur, Gemeinschaft und Identität aus. Zudem betrifft sie das Leben und Wirken der Familienmitglieder unmittelbar: Schließlich gilt es, offizielle Dokumente wie Gesellschafterverträge, Eheverträge und Testamente auf ihre Kongruenz zur Familiencharta zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. So wird die Brücke gebaut zwischen Voluntas und Regula, also zwischen dem gemeinsamen Willen und den vereinbarten Regeln.

 


Abbildung: „Das Kreis-Modell“ .
Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt

Die nächste Generation im Fokus

Unverzichtbar sind Verabredungen darüber, wie die nächste Generation systematisch an das Unternehmen und an die Rolle als Gesellschafterin oder Gesellschafter herangeführt werden soll. Trainings- und Heranführungsangebote sowie turnusmäßige Treffen sind dabei ein wichtiger Gesichtspunkt. In diesem Kontext schreibt eine Familiencharta auch fest, unter welchen Voraussetzungen jemand aus der Familie im Unternehmen und vor allem in der Unternehmensführung arbeiten kann.

Üblicherweise werden darüber hinaus die Informationsstrukturen überdacht und die Governance überprüft. Einige Unternehmen rufen beispielsweise einen Familienrat ins Leben, der neben der Gesellschafter:innenversammlung und dem Aufsichts- oder Beirat agiert. Ein Familienrat bietet sich insbesondere bei weit verzweigten und geografisch verteilten Familiensträngen an. Er professionalisiert das Zusammenwirken der Familie und wacht darüber, dass die Charta eingehalten wird. Zudem organisiert er Aktionen für ein stärkeren Wir-Gefühl und initiiert Kommunikationsanlässe – beispielsweise regelmäßige Informationsveranstaltungen oder einen Familientag.

Effektive Kommunikations- und Bindungsaktivitäten sind für die Inhaber:innenfamilie von elementarer Bedeutung. Es gilt, jede und jeden zu erreichen. Denn die Familienmitglieder, welchen Lebensentwürfen sie auch folgen und welche Wertestrukturen sie auch vertreten mögen, bleibt keine Wahl: Quasi von Geburt an haben sie einen Bezug zu ihrem Unternehmen und damit einhergehend eine Verantwortung, der sie sich nicht entziehen können. Und wenn sie zudem noch Gesellschafterin oder Gesellschafter sind, dann treffen sie spätestens in der Gesellschafter:innenversammlung aufeinander, müssen miteinander arbeiten können und in der Lage sein, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Sympathien hin, Animositäten her.

Starker Zusammenhalt

Die Familiencharta ist also weit mehr als „nur“ ein Dokument – nämlich ein strategisches Instrument und ein normativer Anker. Sie stärkt die kollektive Identität, bringt gemeinsame Werte und Normen zum Ausdruck, definiert die Familie als Einheit und fördert ihren Zusammenhalt. Die Familie kann kommenden Herausforderungen mit Klarheit und Weitsicht begegnen. Anders gesagt: Der Chartaprozess ist ein Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft – für die Familie und das Unternehmen.

Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)