Der entscheidende Punkt ist doch: Die Corona-Pandemie und ihre tiefgreifenden Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben lassen den Unternehmen keine Wahl, sie verlangten und verlangen umgehendes Handeln. Im Vergleich zu diesen adaptiven Reaktionen auf den Corona-Schock läuft jedoch die von der Digitalisierung induzierte, weitaus gravierendere Transformation der Wirtschaft bemerkenswert träge.
Die Wucht der Veränderung sollte indes jedem verantwortungsbewussten Manager deutlich machen: Ohne Innovation keine Zukunft. Die Unternehmen müssen sich tief in ihrem Kern verändern. Es geht um die Essenz ihrer Wertschöpfung und den eigentlichen Grund, warum sie überhaupt existieren: ihre Geschäftsmodelle.
Wir kennen Studien, zum Beispiel vom Branchenverband Bitkom, die den Innovationsbedarf sichtbar werden lassen. Immerhin 40 Prozent der Unternehmen, so die Ergebnisse, reagieren auf die Folgen der Corona-Krise, indem sie ihre Geschäftsmodelle mit digitalen Mitteln innovieren. Was aber ist mit den restlichen 60 Prozent? Andere Untersuchungen, etwa von McKinsey & Company, zeigen, dass ganze Branchen weiterhin mit strukturellen Defiziten zu kämpfen haben, die durch die Corona-Pandemie noch weiter verstärkt werden.
Zusammenfassend heißt das: Ohne Zweifel gibt es nach wie vor eine hohe Anzahl an Unternehmen, die Innovationen scheuen und an ihren bisherigen Geschäftsmodellen festhalten. Offenbar ist für manche der Leidensdruck noch nicht groß genug. Mir kommt an dieser Stelle die Truthahn-Illusion in den Sinn. Diese Analogie aus der Verhaltensökonomie steht für eine geringe Risikointelligenz. Wie der Truthahn, der sich daran gewöhnt hat, Tag für Tag gepäppelt zu werden, und dann zu Thanksgiving geschlachtet wird, vertrauen diese Unternehmen zu lange dem „business as usual“.
Doch wer seine Chancen und Risiken nicht permanent reflektiert, ignoriert die Möglichkeit eines eigenen „Thanksgiving“-Schocks, ausgelöst durch radikal neue Kundenbedürfnisse und Spielregeln in ihren Märkten. Dagegen hilft nur eines – sich an die Arbeit zu machen!
Geschäftsmodellinnovation ist anspruchsvoll, aber weder Hexenwerk noch Rocket Science. Wer für dieses zukunftssichernde Vorhaben nach Orientierung sucht, findet sie im bewährten St. Galler Modell mit seinen vier Leitfragen:
Das St. Galler Modell (Business Model Navigator) mit den vier Leitfragen zur Geschäftsmodellinnovation.
Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt.
In den Spannungsfeldern zwischen diesen Eckpunkten bilden sich die effektiven Energieströme eines Geschäftsmodells heraus: das Wertangebot an die Kunden (Value Proposition), das Erlösmodell (Revenue Stream) sowie die Wertschöpfungskette (Value Chain).
Diese Herangehensweise ermöglicht es, Geschäftsmodelle holistisch zu beschreiben und neue Ideen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Zudem ist das Modell so anschlussfähig und offen, dass sich eine entscheidende Technik für Geschäftsmodellinnovationen problemlos anwenden lässt: kombinieren. Es muss und kann keineswegs immer die marktumwälzende Disruption sein. Die gelingt nur wenigen. Vielmehr basieren 90 Prozent aller neuen Geschäftsmodelle der vergangenen 50 Jahre auf der Re-Kombination bestehender Ansätze.
Neue Geschäftsmodelle zu kreieren, indem man bekannte Konzepte kombiniert oder Best Practices aus ganz anderen Industrien zu adaptiert – das ist ein ebenso legitimer wie vielversprechender Weg zu zukunftsfähigen Lösungen. Ständig begegnen wir neuen Geschäftsmodellen, mit denen wir mehr und mehr Bereiche unseres Lebens gestalten. Sie alle dürfen als Inspiration dienen.
Wie selbstverständlich nutzen wir Internet-Plattformen, um überflüssig gewordene Waren zu verkaufen, Ferienhäuser oder Hotels zu buchen. Viele Verbraucher lieben die fliegenden Wechsel der Kollektionen bei Modefilialisten, die sich von der Saisonware gelöst haben. Freemium-Angebote verleiten uns dazu, doch irgendwann ein bezahltes Software- oder Medienabonnement abzuschließen. Über Flatrates befriedigen wir unser Bedürfnis nach Unterhaltung – und zahlen für Highlights im „Pay per Use“-Verfahren auch noch extra. Auch die Sharing-Economy haben viele Konsumenten antizipiert. Teilen ist wieder „in“, von der Babykleidung über Autos bis hin zu Fahrrädern und E-Rollern.
Im Business-to-Business-Sektor sieht es nicht anders aus: Manche Maschinenbauunternehmen stellen ihren Kunden nicht ihre Maschinen in Rechnung, sondern die darauf produzierten Güter („Machine as a Service“). „Digitale Zwillinge“ ermöglichen es, das Verhalten, die Funktionalität oder die Qualität eines realen Produktes virtuell zu simulieren. So können Kosten in signifikanter Höhe eingespart werden. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – aber immer handelt es sich um Variationen der 55 Geschäftsmodell-Archetypen, die an der Universität St. Gallen identifiziert wurden.
Aus diesem Reichtum an Optionen gilt es also zu schöpfen, wenn Geschäftsmodelle innoviert werden sollen. Unsere Erfahrung ist: Mit einem gut strukturierten, den Prinzipien des Design Thinkings folgenden Prozess lassen sich Geschäftsmodellinnovationen binnen zwei bis drei Monaten realisieren. Dabei gilt es, mit einem motivierten Team vier „Quality Gates“ zu durchschreiten:
Die vier Qualitätstore (Quality Gates) der Geschäftsmodellinnovation: Explore, Ideate, Validate, Implement.
Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt.
Genauso erfolgskritisch wie ein strukturierter Innovationsprozess ist jedoch die Wahl des richtigen Gefäßes, des geeigneten Raums und Konzepts für das Denken außerhalb gewohnter Bahnen. Insbesondere für jene Unternehmen im gehobenen Mittelstand, die gern an tradierten Konzepten festhalten, kann dieser Schritt eine große Herausforderung darstellen. Dabei sind weitreichende Entscheidungen zu treffen:
Auf diese Schlüsselfragen gibt es verschiedene konzeptionelle Antworten, die je nach Ausmaß und Ziel der Geschäftsmodellinnovation in Frage kommen. Internal Digital Teams können die Transformation inhouse betreiben. Innovation Labs, die kreative Räume und Strukturen für die Mitarbeiter schaffen, werden am besten als separate Einheiten organisiert. Bei der Co-Innovation kommt ein Partner aus dem Ökosystem der Branche, etwa ein Start-up oder sogar ein Wettbewerber, mit ins Spiel.
Wenn es jedoch darum geht, mit einem neuen Geschäftsmodell ein komplett neues Geschäftsfeld zu eröffnen, bieten sich weiterreichende Ansätze an. Accelatoren oder Inkubator-Programme für Start-ups ermöglichen den Aufbau von gemeinsamer Expertise. Außerdem lassen sich in solchen Partnerschaften mögliche Beteiligungen früh und exklusiv identifizieren. Die Alternative dazu sind sogenannte Company Builder, eine Organisationseinheit des Unternehmens, die unabhängig vom Kerngeschäft innovative Geschäftsmodelle und Produkte entwickelt. Last but not least kann sich das Unternehmen mit Corporate Venture Capital an Start-ups beteiligen oder sie akquirieren. Das ist bei allem unausweichlichen Risiko häufig eine vielversprechende Option.
Die sich dramatisch schnell wandelnden Bedürfnisse von Kunden im Verbraucher- wie im Business-to-Business-Sektor verlangen nicht nach kosmetischen Korrekturen im Angebot, sondern nach neuen Geschäftsmodellen. Diese sind zunehmend, aber nicht zwangsläufig digital.
Ein effizienter, wohlgeplanter Innovationsprozess und ein geeignetes „Gefäß“ bilden die Grundlage nachhaltiger Erfolge. Wenn die Freiheit, „out of the box“ zu denken, gegeben und der kulturelle Boden für den Wandel bereitet ist, finden sich in den Unternehmen auch mutige und kreative Köpfe, die die Chance auf Veränderung ergreifen und andere mitreißen. Dabei gilt es, sich nicht von den unendlich vielen Optionen verwirren zu lassen, sondern sich immer wieder vor Augen zu führen: Das Gute liegt so nah – und wer es geschickt kombinieren kann, hat den ersten großen Schritt auf dem Weg zur Geschäftsmodellinnovation schon gesetzt.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)