Die Kultur vieler Familienunternehmen und Start-ups ist von einem Konzept geprägt, über das im Kontext von Organisation, Kultur und Change Management eigentlich viel zu selten gesprochen wird: Subsidiarität. Manche Unternehmen, das sei vorangeschickt, setzen sich aktiv damit auseinander und haben es seit Generationen immer wieder diskutiert und verfeinert. Andere haben es implementiert, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Subsidiarität ist der beständig laufende und wartungsarme Motor von Organisationen, in denen Eigenverantwortung großgeschrieben wird und eine Kultur des Vertrauens mehr ist als ein Papiertiger.
Kurz gesagt bedeutet Subsidiarität: Die Teams und Mitarbeitenden erledigen ihre Aufgaben autonom und entwickeln ihren Kompetenzbereich weitgehend autark weiter. Die nächste Hierarchiestufe, etwa ein Teamleiter oder eine Führungskraft, mischt sich erst dann ein, wenn die Kolleginnen und Kollegen darum bitten. Das ist Subsidiarität in Reinkultur. Die unternehmerischen Ziele werden über Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstorganisation gesichert – und nicht, indem übermotivierte Chefinnen und Chefs eine Aufgabe an sich reißen. Klingt das nicht sehr nach agiler Organisation, nach moderner Führung und all dem, was heute unter dem Schlagwort „New Work“ diskutiert wird?
Das Faszinierende daran ist: Das Subsidiaritätsprinzip ist zwar in der Öffentlichkeit kaum bekannt, prägt jedoch unser gesamtes Lebensumfeld. Das Konzept lässt sich bis zu Philosophen wie Sokrates (469–399 v. Chr.) oder Thomas von Aquin (1225–1247) zurückverfolgen. Unser heutiges Verständnis von Subsidiarität wurzelt in der katholischen Soziallehre und wurde erstmals von Papst Pius XI. im Jahr 1931 deutlich formuliert, und zwar in der Enzyklika „Quadragesimo anno“. Darin heißt es: „Was von einzelnen Menschen auf eigene Initiative und in eigener Tätigkeit vollbracht werden kann“ dürfe ihnen nicht „entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden“. Ebenso sei es ein „Unrecht“ oder gar eine „Störung der rechten Ordnung“, mögliche Leistungen einer „kleineren und untergeordneten Gemeinschaft“ auf eine „größere und höhere“ zu übertragen. „Subsidiarität“ besagt demnach, dass höhere gesellschaftliche Einheiten nur dann in einen Prozess eingreifen sollen, wenn untere nicht in der Lage sind, bestimmte Aufgaben selbst zu bewältigen.
Auch wenn dieses Prinzip in der politischen Praxis und in der Verwaltung nicht immer eingehalten wird und permanent neu ausgehandelt werden muss, bildet es doch eine zentrale Säule der Europäischen Union und unseres Staatswesens, inklusive der Sozialen Marktwirtschaft. Wie weit die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger reicht und ab wann der Staat sie im Sinne einer Solidargemeinschaft unterstützen soll, ist seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein Streitthema der verschiedenen politischen Lager. Mit Blick auf das föderalistische System bedeutet Subsidiarität beispielsweise, dass sich ein Bundesland nicht in die Arbeit und Kompetenzen eines Landkreises oder einer Kommune einmischt, solange diese gut klarkommen.
„Gefragt sind Führungskräfte, die koordinieren und organisieren können, die Führung mit Fingerspitzengefühl betreiben, die Vertrauen schenken, die mit Fehlern anderer produktiv umgehen können und die persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden fördern“, so Max Görner.
Was Subsidiarität für Unternehmen so interessant macht, ist das ihr innewohnende, positive Menschenbild. Es geht davon aus, dass Menschen an einem gelingenden Leben interessiert und bereit sind, Initiative zu ergreifen, Leistung zu erbringen und sich für ein Ziel einzusetzen. Subsidiarität greift diese Motivation nicht nur ab, um Produktivität und Effizienz zu steigern, sondern aktiviert sie permanent. Das funktioniert allerdings nur, wenn das Subsidiaritätsprinzip auch konsequent gelebt wird. Dazu gehört das weiterreichende Verständnis, dass Subsidiarität nur vordergründig mit Delegation oder dezentraler Führung zu erreichen ist. Vielmehr gilt es zu verinnerlichen, dass hier durchaus Elementares wie die Würde des Menschen berührt ist. Viele Menschen spüren einen intrinsischen Antrieb, ihre Fähigkeiten frei zu entfalten, und gleichsam den Wunsch, dass ihre Leistung auch gewürdigt wird.
Folgerichtig hat die jeweilige Führungsebene jeder Versuchung zu widerstehen, einmal übergebene Aufgaben oder Verantwortungsbereiche ohne Not teilweise oder ganz wieder an sich zu ziehen. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn Unternehmen den Fehler begehen, die Mitarbeitenden mit der größten fachlichen Expertise zu Führungskräften zu befördern. Fast folgerichtig werden sie sich einmischen, weil sie ihre inhaltlichen Fähigkeiten zur Geltung bringen möchten – und dies in vielen Fällen sogar müssen. Gefragt sind Führungskräfte, die koordinieren und organisieren können, die Führung mit Fingerspitzengefühl betreiben, die Vertrauen schenken, die mit Fehlern anderer produktiv umgehen können und die persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden fördern. Sie führen über gemeinsam erarbeitete Ziele und geteilte Werte und mit Feedbackschleifen, die nicht linear von oben nach unten verlaufen, sondern auf Dialog und Augenhöhe ausgerichtet sind. In ihren zwei Handlungsfeldern Leadership (Menschen) und Management (Ressourcen) agieren sie ähnlich souverän und beherrschen somit die situationsbedingte, beidhändige Führung, „Ambidextrie“ genannt.
Das folgende Beispiel aus einer Websession der Allfoye Managementberatung mit Führungskräften aus mittelständischen Unternehmen gibt Hinweise, wie konstruktiv das Subsidiaritätsprinzip im Wirtschaftsumfeld des 21. Jahrhunderts wirken kann. Transformation und Change sind allgegenwärtig. Nicht umsonst charakterisieren wir das wirtschaftliche Umfeld mit dem Akronym VUKA (volatil, unsicher, komplex und ambiguitär/mehrdeutig) oder, noch präziser, als BANI: brizzle, anxious, non-linear, incomprehensible. Also: brüchig, verängstigt, nicht-linear und unverständlich. Vor diesem Hintergrund wurden die Teilnehmenden gefragt, wie komplex (im Sinne von vielschichtig, mehrdimensional und interdependent) respektive wie kompliziert sie ihre Handlungsdimensionen Produkt, Prozesse und Organisation wahrnehmen. Das Ergebnis: Die Produkt- und Geschäftsmodellseite meistern sie spielend, aber bei den Prozessen und der Organisationsweise wird’s schnell ebenso komplex wie kompliziert.
Ein Beraterkollege fasste die Resultate damals mit den Worten zusammen: „Offenbar haben Unternehmen keine Mühe, die komplexen Herausforderungen des Marktes anzunehmen. Aber sie erzeugen ineffiziente Organisationsstrukturen und Prozesse, mit denen sie sich selbst das Leben schwer machen.“ Sie halten mit der Geschwindigkeit des Wandels nicht Schritt und passen sich nur ungenügend an die sich verändernden Bedingungen an. Die Resultate aus dem Online-Workshop sprechen für eine gewisse Scheu vor einfachen Lösungen – dabei sind gerade sie es, die häufig Wachstum, Renditen, Kundenzufriedenheit und auch Aktienkurse befeuern.
Subsidiarität ist ein wirksames Gegenmittel gegen solche organisationsbedingte Behäbigkeit. Und insbesondere mittelständische Unternehmen können von einer subsidiär geprägten Kultur profitieren, da sie tendenziell weniger starre Hierarchien und Strukturen aufweisen als große Konzerne. Allerdings gilt: Ein bisschen Subsidiarität geht nicht. Man kann Subsidiarität nicht aufteilen auf Einheiten und Menschen, denen man vertraut und viel zutraut, und sie wertschätzender behandeln als jene, bei denen eher Zweifel überwiegen. Subsidiarität verlangt Gleichbehandlung und entfaltet ihre Wirkung nur, wenn sie als Grundkonstante das Miteinander im Unternehmen mitbestimmt. Dann besteht eine gute Chance, dass sich das System „Unternehmen“ auf dieser Basis selbst reguliert. Wer von seiner Persönlichkeit her auf Autonomie und Selbstbestimmung geeicht ist, wird das Unternehmen attraktiv finden. Wer eher auf Anweisung und als Rädchen im Getriebe arbeiten möchte, eher nicht.
So betrachtet, birgt das Subsidiaritätsprinzip gerade in dieser Phase gravierender Veränderungsprozesse ein immenses Potenzial. Es stärkt die Resilienz, Reaktionsgeschwindigkeit und Adaptionsfähigkeit von Unternehmen, weil die Mitarbeitenden und Teams aus eigenem Antrieb unternehmerisch handeln und ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag legen. Die Zufriedenheit der Belegschaft als auch das Betriebsklima verbessern sich und die Attraktivität des Unternehmens auf dem umkämpften Arbeitsmarkt steigt. So wird in Form von Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit mit Zins und Zinseszins zurückverdient, was das Unternehmen zuvor in die Kulturarbeit investiert hat. Also, liebe Führungskräfte, mischt Euch nicht ein – außer es ist wirklich zwingend notwendig. Oder besser noch: Werdet erst aktiv, wenn Ihr explizit darum gebeten werdet.
Und noch ein Gedanke zum Abschluss: Wenn die Politik das Subsidiaritätsprinzip wieder stärker beherzigen würde, statt um jede Position zu ringen und Handelsfelder bis ins Detail zu regulieren, bringt uns das als Gesellschaft weiter. Vertrauen schenken, zur Eigenverantwortung befähigen – das ist ein unschlagbares Tandem, um ungeahnte Kräfte freizusetzen. Bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie in der Wirtschaft.
Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)