Themenschmiede. Das Magazin für Zukunftsfähigkeit.

Unternehmerische Resilienz in unruhigen Zeiten

Geschrieben von Dr. Thomas M. Fischer | Aug 12, 2021 12:06:50 PM

Wir durchlaufen eine steile Lernkurve, auf die alle gerne verzichtet hätten. Es stellt sich heraus, dass selbst wirksame Impfstoffe die globale Corona-Pandemie nicht beenden werden. Wir müssen uns mit dem Virus und seinen Mutationen arrangieren und gute Balancen finden zwischen Schutzmaßnahmen und Freiheitsrechten.

Zudem hat Deutschland im Juli schmerzlich erfahren, dass Klimawandel kein abstraktes Problem ist, das in der Ferne die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört. Die Flutkatastrophe in mehreren Teilen des Landes war eine unmittelbare, existenzielle Erfahrung: Die globale Erderwärmung und ihre Auswirkungen auf das Wetter bedrohen auch uns, die wir uns in der Mitte Europas und im gemäßigten Kontinentalklima immer recht sicher gefühlt haben, ganz direkt.

Gleichzeitig erleben wir ein geopolitisches Kräftemessen zwischen demokratischen Staaten und autokratischen, ja diktatorischen Regimen. Selbst innerhalb der EU sind die Wertesysteme bis zum Zerreißen angespannt, wie die Einschränkung von Menschen-, Grund- und Freiheitsrechten in Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Polen zeigen.

Dass all diese Entwicklungen von einer umfassenden, sich beschleunigenden digitalen Transformation begleitet werden, bedarf keiner besonderen Ausführung mehr. Mit anderen Worten: Change ist kein Projekt, sondern ein Dauerzustand.

Das unternehmerische Umfeld verändert sich grundlegend. Einst sichere Lieferketten stehen infrage. Manche Beschaffungs- und Absatzmärkte werden aus logistischen, politischen und zunehmend auch aus ethischen Gründen nicht durchgehend zu adressieren sein. Das Krisenmanagement der Staaten und der multilateralen Organisationen wie der EU zieht eine beeindruckende Rechnung nach sich, Steuerlast und Staatsquote werden zwangsläufig anziehen. Ein bisheriger Wettbewerbsvorteil des Standorts Deutschland, der soziale Frieden, und der Lastenausgleich zwischen den Generationen wer-den in den kommenden Jahren garantiert neu verhandelt. Gleichzeitig sinkt tendenziell die Bindung der Verbraucher an Marken und Unternehmen, Treue und Vertrauen müssen ständig neu erarbeitet werden.

Also, was wird in diesem „New Normal“ schon normal sein? Nicht viel. Deshalb müssen Unternehmer und Führungskräfte sich genau auf diese umfassende Ambivalenz einrichten. Die Stärken der deutschen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands, in Produktion und Qualitätsmanagement, Innovation und Logistik müssen bewahrt und weiterentwickelt werden, damit „Made in Germany“ und „Engineered in Germany“ ihren guten Klang behalten. Eine wesentliche Schlüsselkompetenz dazu, und unter diesem Gesichtspunkt darf manches Unternehmen sicher noch etwas dazulernen, ist Adaptionsfähigkeit. Die Kernfähigkeiten immer wieder neu mit den Wirkfaktoren eines dynamischen Marktumfeldes zu verknüpfen, darin liegt die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft begründet.

Wo also anfangen, wenn die Welt sich gefühlt immer schneller dreht?

 

1. Konsequent nachhaltig handeln

Es ist offenkundig, dass die Menschheit aller Wahrscheinlichkeit nach den CO2-Ausstoß nicht schnell und tief genug senken kann, um den Klimawandel zu stoppen. Aber das darf niemanden daran hindern, sein Möglichstes beizutragen, um die Folgen zumindest zu begrenzen. Das ist für mich die Botschaft, die von den bedrückenden Bildern der Flutkatastrophe im Juli 2021 ausgeht. Die Zeit der Kompromisse, auch was den Beitrag der Wirtschaft angeht, ist vorbei. Und die in Deutschland immer wieder zu hörende Klage, ambitionierte Klimaziele gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit, ist ein falsches Signal. Gerade das Land der Erfinder und Ingenieure sollte mit marktführendem Klimaschutz, klimaneutralen Produkten und ökologischen Innovationen vorangehen.

Für verantwortungsvolle Entrepreneure wird sich diese Strategie auszahlen. Glücklicherweise haben sich viele Unternehmen längst dafür entschieden, ein Teil der Lösung und nicht ein Teil des Problems zu sein. Sie richten ihre Innovationsfähigkeit und Kreativität auf das Handlungsfeld Nachhaltigkeit. Vor allem verankern sie ambitionierte Pläne für einen kleineren CO2-Fußabdruck, einen schonenden Einsatz natürlicher Ressourcen und einen minimierten Gebrauch von Plastik in ihren Strategien und Zielsystemen.

 

2. Diversität gezielt fördern

Diversität beginnt im Kopf. Und der ist rund, so das Bonmot des französischen Künstlers Francis Picabia, „damit das Denken die Richtung wechseln kann“. Allerdings scheuen sich manche Unternehmen noch, entschieden in diesen zukunftsweisenden Bahnen zu denken.

Aber genau das ist es doch, was Unternehmen heute benötigen: multiple Denk- und Arbeitsweisen, vielfältige soziokulturelle Hintergründe, unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, ja „Antennen“ für das Geschehen in der Welt, alternative Interpretationsmuster. Für mich steht außer Frage, dass Diversität in der Belegschaft, in den Geschäftsführungen sowie in Bei- und Aufsichtsräten direkt auf die Innovations- und Adaptionsfähigkeit der Unternehmen einzahlt. Dazu muss der Willen zur Vielfalt tief in der Kultur verankert sowie von überzeugten Führungskräften vorgelebt werden.

Nur wenn Unternehmen Diversität ernst meinen, erwerben sie auch auf Organisationsebene eine zu-nehmend erfolgskritische Fähigkeit… nämlich mit ihrem Denken die Richtung wechseln zu können. Einmal abgesehen von diesen Nutzeffekten: Unternehmen sind per se aufgerufen, der offenen und der institutionellen Ausgrenzung entgegenzuwirken. Nach wie vor haben viel zu viele Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Jobs und Karrierechancen. Ändern wir das.

 

3. Hyperawareness entwickeln

Welche ökonomischen Faktoren wirken auf das Unternehmen ein? Wie verändern sich die Paradigmen der Märke und die Präferenzen der Kunden? Welche konstruktiven respektive destruktiven Signale kommen aus der Politik? Wie agiert der Wettbewerb? Wo lauern Risiken, wo eröffnen sich Chancen? Strategische Unternehmensführung ist längst ein Spiel mit multiplen, sich stetig verändernden Variablen.

Für Unternehmen ist es wichtig, einen jeweils aktuellen Überblick über die verschiedensten Einflüsse zu behalten. „Hyperawareness“ nennt man in der Psychologie die Fähigkeit, selbst kleinste Veränderungen im Umfeld wahrzunehmen. Auf Unternehmen übertragen heißt das: Führungskräfte, Teams und Mitarbeiter müssen ihre Ohren spitzen, Trends hinterfragen und ihre Gedanken dazu auch teilen.

Je größer eine Organisation, desto wichtiger ist es, ein Wissensmanagement aufzubauen, das die Entscheidungsgrundlagen aktuell hält. Kultur und Systeme müssen intelligent zusammenspielen, damit Unternehmen diese Sensitivität entwickeln. „Hyperawareness“ heißt übersetzt „übertriebenes Bewusstsein“. Wenn es darum geht, die Sinne zu schärfen, können Unternehmen in der Tat nicht über das Ziel hinausschießen. Hier gilt: Mehr hilft mehr. Eine verlässliche Informationsquelle sind übrigens immer die eigenen Kunden. Gut zuhören lohnt sich also!

 

„Führungskräfte, Teams und Mitarbeiter müssen ihre Ohren spitzen, Trends hinterfragen und ihre Gedanken dazu auch teilen“, so Dr. Thomas M. Fischer. Hyperawareness zu entwickeln ist für ihn eines von sechs entscheidenden Handlungsfeldern für eine gesteigerte unternehmerische Resilienz.

 

4. Veränderungskompetenz steigern

In der Corona-Krise haben viele Unternehmen eine Veränderungsfähigkeit an den Tag gelegt, die sie sich selbst vielleicht kaum zugetraut haben. Man könnte auch sagen: Sie haben eine neue Kernkompetenz erworben.

Keine Frage, Unternehmen der Zukunft müssen auf globale Krisen, Wirtschaftskriege und geostrategische Herausforderungen ebenso flexibel reagieren wie auf ein mitunter erratisches Verhalten von Abnehmern und Märkten. Strategien unterliegen immer kürzeren Halbwertzeiten und bedürfen parallel einer flexiblen, pragmatischen Lösungsorientierung. Unternehmen müssen sich in eine permanente Aufmerksamkeit versetzen, damit sie Signale frühzeitig wahrnehmen, deuten und in Handlungen um-setzen können. Alles ist im Fluss und gleichzeitig vernetzt. Lineare Denkweisen wie „Input-Output“ und „Impuls-Reaktion“ funktionieren nicht mehr. Die unzähligen Variablen und vielen Unbekannten im unternehmerischen Umfeld sollten zu einer neuen Form des Denkens und Planens führen: zu Szenarien mit offenen Ergebnisräumen, flexibel und jederzeit anpassbar.

Diese Veränderungskompetenz benötigt Spielraum. Wenn Unternehmen noch einen Schubs benötigen, eine Kultur des Vertrauens und der Eigenverantwortung, der Agilität und Flexibilität einzuführen, dann ist es dieser: In der zunehmenden Komplexität der Märkte und des Umfelds können Führungskräfte oder Gremien nicht immer adäquat reagieren, entscheidungsfähige Teams und „Owner“ eines Themas oder Projekts können dem Change häufig viel zielgerichteter begegnen.

 

5. Technologisch Rückgrat zeigen

Völlig zu Recht wurden die Digitalisierungssprünge vieler Unternehmen in der Covid-19-Pandemie vielfach gelobt. Was lange ein quälender, sich viel zu lange hinziehender Prozess war, nämlich die Arbeitsorganisation durch Technologie zu flexibilisieren, gelang im Frühjahr des vergangenen Jahres fast im Handumdrehen.

Doch hier tropft das Wasser in den Wein: Homeoffice und Videokonferenzen, verteilte Arbeitsstrukturen und hybride Teams sind schön, wertvoll und gut. Aber dieser Fortschritt kratzt nur an der Oberfläche. Wir haben noch lange nicht den digitalen Schub erreicht, den die deutsche Wirtschaft langfristig wettbewerbsfähig hält. Und wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass der überwiegende Teil der arbeitenden Bevölkerung nicht am Schreibtisch sitzt.

Die Herausforderungen sind von einem anderen Kaliber:

  • Wie schöpfe ich Wert aus Daten?
  • Wie gelange ich zu produktiven digitalen Geschäftsmodellen?
  • Wie setze ich Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen ein, um meinen Servicelevel gegenüber den Kunden zu verbessern, Rationalisierungspotenziale zu heben und gleichzeitig ein verantwortungsvolles Unternehmen zu bleiben?
  • Wie finden insbesondere mittelständische Unternehmen Anschluss an die Innovationscluster, die sich um die Start-up-Szenen in Berlin und München, in Köln und im Ruhrgebiet herausbilden – um die deutschen Hochburgen zu nennen –, und an europäische Hotspots wie London, Paris oder Stockholm?
Dies alles sind Fragen, die über die Zukunftschancen eines Unternehmens entscheiden. Das Thema ist nicht Digitalität um jeden Preis und schon gar nicht um Schaufenster-Projekte. Vielmehr geht es da-rum, auch im digitalen Zeitalter die ureigene Aufgabe eines jeden Entrepreneurs zu meistern: Wettbewerbsvorteile zu entwickeln.

 

6. Beziehungsfähigkeit verbessern

Die Beziehung der Wirtschaft zur Gesellschaft verändert sich im 21. Jahrhundert grundlegend. Die Doktrin „The Business of Business is Business“, vor 50 Jahren vom Ökonomen Milton Friedman formuliert, hat einstweilen ausgedient. Zu sehr implizierte diese marktliberale Haltung, dass Unternehmen weitgehend losgelöst von gesellschaftlicher Verantwortung nach Marktanteilen, Umsatz und Gewinn strebten. Die Folge war und ist, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, so sehr, dass selbst der Internationale Weltwährungsfonds Alarm schlägt.

In diesem Zusammenhang klingt es besorgniserregend, dass selbst in erfolgreichen Volkswirtschaften wie Deutschland und den USA mehr als die Hälfte der Menschen nicht mehr an den Kapitalismus glauben. Wenn sich diese Skepsis in einer tiefen Krise wie der Corona-Pandemie mit irrationalen Verschwörungstheorien und Protesthaltungen verbindet, kann eine explosive Mischung entstehen. In Deutschland steht eine Idee auf dem Spiel, die über Jahrzehnte eine Säule des Erfolgs war: der soziale Frieden.

Aus ihrem eigenen Selbstverständnis und weil die Zeit dafür reif ist, muss die Wirtschaft einen Wandel vollziehen. Nicht weg vom Shareholder Value und hin zum Stakeholder Value, wie es oft formelhaft gefordert wird. Aber die Bedürfnisse der Gesellschaft in die unternehmerische Gesamtrechnung einzubeziehen und die Beziehungen zu den Menschen und Organisationen aufmerksamer, konstruktiver und intensiver zu gestalten, das ist eindeutig angesagt.

In diesem Umdenken sehen laut Edelman Trust Barometer 92 Prozent aller deutschen Bürger die Grundlage für langfristigen unternehmerischen Erfolg. Sie fordern Kompetenz und Haltung, Ethik und Solidarität ein. Wie agiert ein Unternehmen in der Rolle des „Corporate Citizen“? Diese Frage liegt auf dem Tisch.

Wer dazu keine überzeugende Position entwickelt –, man könnte auch sagen: Purpose –, wird von den Märkten abgestraft und beschädigt sein Employer Branding. Dass Nachwuchsgenerationen ihren Arbeitgeber nicht allein, aber auch unter dem Kriterium des gesellschaftlichen Engagements auswählen, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben.

 

Unternehmerische Resilienz: So gelingt der Wandel

Der Schlüssel zu diesen sechs Handlungsfeldern? Eine partizipative, auf Vertrauen und Transparenz basierende Kultur und Führung. In unserer Beratungspraxis erleben wir derzeit verstärkt – und das freut uns immens – wie selbstbewusste Führungskräfte diesen Paradigmenwechsel vollziehen. Für manche ist dieser Prozess schmerzhaft, aber sie gehen den Weg trotzdem und aus gutem Grund: Diese Führungskräfte spüren, dass ihre einst bewährten Handlungs- und Lösungsmuster nicht mehr so recht funktionieren.

Mit ihrem teils über Jahrzehnte verfeinerten Erfahrungswissen erreichen sie viele Mitarbeiter nicht mehr. Kein Wunder, die Menschen wollen heute genau dort abgeholt werden, wo sie momentan im Koordinatensystem von Pandemie, Digitalisierung, Konjunkturschwankungen und Unternehmenspolitik stehen. Statt ständig Antworten zu geben, muss Führung Fragen stellen. Es bedarf eines Klimas, in dem Veränderung positiv besetzt ist und in dem die Mitarbeiter gerne und eigenverantwortlich einen positiven Beitrag leisten möchten.

Das erfordert intensive Kulturarbeit. Aber sie lohnt sich: Mit kongruenten Werte- und Anreizsystemen, einem nachvollziehbaren „Big Picture“ zur Zukunft des Unternehmens und einer glaubwürdigen, geteilten Entwicklungsstory kann Führung an die intrinsische Motivation der Menschen und Teams andocken. Gibt es einen besseren Anreiz, in dieser komplexen, durchaus auch Angst einflößenden Zeit Leistung zu bringen und umsichtig zu handeln, als der eigene, innere Antrieb?

 

Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)