Digitalisierung am Standort Deutschland, das ist eigentlich ein Thema für Schwarzseher. In den Rankings findet sich die hiesige Wirtschaft nie in der Spitzenklasse, oftmals sogar weit davon entfernt. Wieviel realistische Sorge, wieviel Panikmache steckt in der Debatte? Schließlich kann man dem deutschen Mittelstand nicht absprechen, dass er enorm erfolgreich ist.
Dennoch stimmt es: Der Mittelstand riskiert seine derzeit noch gute Position auf den Märkten. Selbst in vielen Unternehmen, die sich Transformation auf die Fahnen geschrieben haben, wird oft nur an der Oberfläche des Notwendigen gekratzt. Einzelne Projekte werden bejubelt, obwohl das Rückgrat, und da spreche ich von Basissystemen wie dem Enterprise Resource Planning (ERP), überhaupt nicht eingezogen ist.
Das Problem ist: Niemand traut sich an dieses Thema heran. Das verstehe ich, denn dieses Thema ist mühselig, macht nur wenig Freude und gleicht in manchem Unternehmen einem Kampf gegen Windmühlen. Aber wenn die Grundlagen nicht gelegt werden, dann entfalten digitale Initiativen auch nicht ihr Potenzial. Gute Ideen verpuffen, weil die internen Prozesse noch gar nicht ausgereift sind. Oder noch schlimmer: Die Unternehmen lassen sich von der Begeisterung für ihre vermeintliche Innovationsfähigkeit in die Irre führen.
Was übersehen Unternehmen, die bei der Digitalisierung zögern?
Wir befinden uns in einer revolutionären Epoche des technologischen Fortschritts. Die Corona-Pandemie sorgt für zusätzliche Beschleunigung. Wenn manche Unternehmen nicht aus der digitalen Lethargie aufwachen, werden sie abgehängt. Es ist erstaunlich, dass sie die rasante technologische Entwicklung, die wir in vielen Lebensbereichen erleben, nicht auf sich beziehen.
Heute ist es doch so: Sie bekommen einen Anruf, bei dem Ihr Gesprächspartner Chinesisch spricht, und bei Ihnen kommen die Sätze auf Deutsch an. Wieviel an Künstlicher Intelligenz und Maschinellem Lernen, an Algorithmen und Datenverständnis in solchen Services steckt! Das sind die gleichen Technologien, die immer stärker über die Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Jedes Unternehmen sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, wie sich Digitalisierung für mehr Wertschöpfung und höhere Effizienz nutzen lässt. Hier spielen eine veränderungsfreudige Kultur und ein digitales Mindset eine große Rolle.
Wie können Unternehmen diesen Knoten lösen? Wie entwickeln sie eine Dynamik, die sie bei der Digitalisierung voranbringt?
Das Faszinierende ist: Manchmal geht es zügig. Es braucht nur einen Impuls, der das Mindset verändert und deutlich macht, dass Digitalisierung großartig ist, wenn man sie direkt mit der Wertschöpfung und den wesentlichen Prozessen verknüpfen kann. Ich sehe es als unsere Aufgabe als externe Fachleute an, diesen Knoten zu lösen.
Es ist etwa enorm hilfreich, mit einem heterogen zusammengesetzten Team in einem Workshop einmal den kompletten Kundenkontakt digital neu zu denken, wirklich jeden Touchpoint, und dabei die Digitalisierungserfahrungen aus anderen Lebensbereichen miteinzubeziehen. Also all das, was man im E-Commerce, in der Unterhaltungselektronik oder auf Reisen erlebt. Wenn sich dann eine Idee verfängt, kann man weitere Dienstleister und Start-ups mit ins Boot holen, um Prototypen zu bauen und in einen iterativen Entwicklungsprozess einzusteigen. Häufig führt ein Schritt zum nächsten, ein digitales Big Picture nimmt Formen an, und die Prozesse werden End-to-End neu durchgetaktet und digitalisiert.
Gibt es Standardprobleme, die in Digitalisierungsprojekten immer wieder vorkommen?
An manchen Hausaufgaben, so sie denn noch nicht erledigt worden sind, führt einfach kein Weg vorbei. Datensilos müssen aufgelöst und Stammdaten zentral zusammengeführt werden. Schnittstellen sind zu definieren und die Prozesse im Unternehmen an den Lauf der Daten anzupassen. Ein unternehmensweites Steuerungskonzept und ein akzeptiertes Set an Key Performance Indicators (KPIs) werden benötigt. Insbesondere die OKR-Methode (Objectives and Key Results) bietet sich an, um im agilen Umfeld zu bestehen und zielgerichtet zu steuern.
Wichtig ist darüber hinaus, die digitale Kommunikation zu vereinheitlichen. In manchen Unternehmen existiert ein historisch gewachsenes Nebeneinander verschiedenster Kollaborationstools. Da hat dann jeder Bereich für sich die vermeintlich beste Lösung gefunden. In solchen Fällen gilt es, eine neue, übergreifende Lösung zu finden.
„Die Orchestrierung der digitalen Initiativen und Projekte im Unternehmen wird häufig unterschätzt. Allzu oft stoßen wir auf Denksilos, die nicht miteinander verbunden sind. Digitalisierung ist als koordiniertes Programm zu verstehen, dessen Bestandteile ineinandergreifen und aufeinander aufbauen. Ohne Transparenz, Übersicht und Prioritäten geht das nicht“, sagt Maren Rixen.
Welche Aufgabe wird häufig unterschätzt?
Die Orchestrierung der digitalen Initiativen und Projekte im Unternehmen. Allzu oft stoßen wir auf Denksilos, die nicht miteinander verbunden sind. Digitalisierung ist als koordiniertes Programm zu verstehen, dessen Bestandteile ineinandergreifen und aufeinander aufbauen. Ohne Transparenz, Übersicht und Prioritäten geht das nicht.
Es gilt, genau hinzuschauen: Welche Projekte sind bereits angestoßen worden, was ist angedacht? Und welche dieser Ideen für neue Services, Produkte oder Prozessoptimierungen haben den stärksten Hebel für das Geschäft? Solche Fragen lassen sich nicht schnell in einem Workshop klären, sondern erfordern weitergehende Analysen.
Wie sieht idealerweise die „Digital Roadmap“ eines mittelständischen Unternehmens aus?
Grundlage sollte ein Digitalisierungscheck sein, bei dem das Unternehmen auf seine digitalen Fähigkeiten hin überprüft wird. Dabei werden über ein Onlinetool Führungskräfte und Mitarbeiter befragt. Das führt schnell zu belastbaren Ergebnissen. Im nächsten Schritt wird mit der Geschäftsführung eine digitale Strategie und anschließend die konkrete Roadmap für die kommenden fünf Jahre erarbeitet. Die Prioritäten werden Jahr für Jahr überprüft und angepasst.
Office 365 und Teams als Arbeitsplattform bilden oft den Einstieg, in der Folge geht es um New Work und Agilität. Aber schnell rückt die gesamte Wertschöpfung in den Fokus. Übrigens lässt sich eine solche Roadmap nicht eins zu eins abarbeiten wie ein Kochrezept. Die Erfahrung zeigt: Immer wieder sind Widerstände und Barrieren zu überwinden, oder für ein kniffliges Problem wird rasch ein überzeugender Prototyp benötigt. Deshalb lohnen sich Pilotentwicklungen, mit denen Alternativen exemplarisch aufgezeigt und überprüft werden können.
Apropos Widerstände: Wie lassen sie sich am besten auflösen?
Auf jeden Fall nicht per Anweisung, sondern nur durch Überzeugungsarbeit. Dabei helfen eben konkrete digitale Lösungen für ein abgegrenztes Problem. Digitalisierung und ihr Nutzen werden dann direkt erlebbar. Mit solchen Projekten gehen wir in die Gremien, in die Bereiche und in die Teams und stellen sie als Best Practice vor. Dann können Mitarbeiter und Führungskräfte für sich überprüfen, ob, wann und wie sie eine Software oder einen digitalen Prozess adaptieren möchten. Selbst bei einem unternehmensweiten Roll-out bietet es sich häufig an, gewisse Handlungs- und Anpassungsspielräume offenzuhalten.
In größeren Organisationen mit vielen, womöglich internationalen Standorten haben sich zudem Botschafterteams bewährt, die Ziele und Absichten vermitteln, aber ebenso Kritik und Schwierigkeiten zurück ins Projektmanagement kommunizieren.
Bei einer solchen Vorgehensweise wird dann zwar die digitale Welt eines Unternehmens nicht hundertprozentig standardisiert, aber die Akzeptanz bei den Menschen in der Organisation wächst immens. Und wenn dieser Schritt in einer Kultur erst einmal gelungen ist, steht der gemeinsamen digitalen Zukunft des Unternehmens nichts mehr im Wege.
Die Fragen stellte Christoph Berdi von den Identitätsstiftern.
DEEP DIVE DIGITALISIERUNG IM MITTELSTAND
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von Maren Rixen
Jan 4, 2022 12:25:49 PM